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„Schwäche der Kirche hat auch mit einer Glaubenskrise zu tun“

Irmgard ­Schwaetzer, die Präses der ­Synode der EKD, im Interview

Rund 270 000 Menschen sind 2019 aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Zudem sterben mehr Mitglieder als neue dazukommen. Die Kirche schrumpft und muss sich für die Zukunft neu ausrichten. Im November soll die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dazu wegweisende Beschlüsse fällen. Präses Irmgard Schwaetzer erläutert im Gespräch mit Corinna Buschow vom Evangelischen Pressdienst, welche Ideen dazu auf dem Tisch liegen und wie die Corona-Krise die finanzielle Lage noch verschärft. Zudem spricht sie über Über­legungen, insbesondere Jüngere zu binden, indem sie auch ohne Mitgliedschaft mitreden können.

Frau Schwaetzer, die evangelische Kirche berät seit zwei Jahren, wie sie sich für die Zukunft aufstellt. Wegen der sinkenden Mitgliederzahl will sie bis 2030 ein Drittel der Kosten einsparen. Dazu kommt nun ein mit der Corona-Krise erwarteter Einbruch der Steuermittel. Wie ernst ist die Lage?

Schon sehr ernst, aber wir ­werden uns auch nicht entmutigen lassen. Die Corona-Krise hat offen­gelegt, dass die Schwäche der christlichen Kirche auch mit einer Glaubenskrise zu tun hat. Wir wollen zuallererst also mit einer geistlichen Orientierung dagegenwirken, uns selbst neu ausrichten. Natürlich gibt es daneben die Finanzdiskussion. Wir gehen davon aus, dass wir allein für dieses Jahr mit einem Rückgang der Kirchensteuer um 10 bis 25 Prozent rechnen müssen.

Der Rat der EKD und die Kirchenkonferenz – der Zusammenschluss der Landeskirchen – haben Pläne für die zukünftige Ausrichtung ­beschlossen, über die die EKD-Synode entscheiden muss. Wo muss gespart werden?

Für alle Bereiche, in denen die evangelische Kirche überregional aktiv ist, wird eine Neukonzeptionierung vorgelegt. Das geht an einigen Stellen mit einem Rückfahren von Ressourcen einher, an anderen Stellen mit einer Weiterführung, an wenigen auch mit einem Aufwuchs.

Entschieden wird nach Priorität. Dafür haben wir Kriterien entwickelt: Es muss der Gemeinschaftsbildung in der evangelischen Kirche nutzen, die Mitgliederbindung stärken und die öffentliche Präsenz der evangelischen Kirche fördern.

Können Sie es an konkreten ­Beispielen deutlich machen: Was muss weg, was bleibt?

Das kann man heute noch nicht sagen. Zunächst muss mit denen gesprochen werden, die von der neuen Zuordnung von Ressourcen betroffen sind.

Es gibt den Vorschlag, Mehrfachstrukturen in Landeskirchen abzubauen. Sie sprachen von „Gemeinschaftsbildung“. Bekommt die ­föderal geprägte evangelische ­Kirche eine zentralere Struktur?

Wir wollen die evangelische Vielfalt, aber mit einem stärkeren Gemeinschaftsgeist. Kirchenleitungen müssen bei Entscheidungen benachbarte Kirchen und die Gesamtkirche künftig stärker im Blick haben.

Ist da nicht Widerstand aus den Landeskirchen zu erwarten?

Alle Pläne sind in einem Zusammenspiel zwischen Landeskirchen, Rat der EKD und Synode erarbeitet worden. Daher habe ich die Befürchtung nicht.

Gibt es auch Einsparpotenzial bei einer Art ökumenischen Doppelstruktur, also mehr Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche?

Es gibt bereits Absprachen, bestimmte Bereiche der Seelsorge in sogenannter gegenseitiger Repräsentanz vorzunehmen, etwa in Gefängnissen oder im Krankenhaus. In einigen Landeskirchen gibt es auch Absprachen beim Religionsunterricht. Da wird es sicher künftig noch mehr geben.

Die Finanzdebatte wird begleitet von einer Diskussion um die grundsätzliche Ausrichtung der Kirche. Im Papier wird ein Verlust von Relevanz und Plausibilität der kirchlichen Botschaft beklagt. Was kann man da machen?

Beim Reformationsjubiläum 2017 konnte man sehen, was gut funktioniert, wo wir mit unserer Botschaft durchdringen – und was eben nicht. Wir sind gezwungen darüber nachzudenken, wenn wir sehen, dass traditionelle Formate nicht mehr in der Gemeinschaft ankommen, auch Gottesdienstformen. Die Corona-Krise hat dabei jetzt deutlich gemacht, welche Kreativität es daneben für neue Formen gibt. Das darf jetzt nicht wieder versickern.

Bedeutet das eventuell das Ende des klassischen Gottesdienstes am Sonntagvormittag?

Nein, auf gar keinen Fall. Wir gehen aber davon aus, dass künftig nicht mehr so viele Gottesdienste am Sonntag um 10 Uhr gefeiert werden. Gemeinden werden sich vielmehr überlegen, wann der richtige Platz und was die richtige Feier ist.

Ein Stichwort von Ihnen war ­Mitgliederbindung: Wird sich die Kirche darauf konzentrieren? 

In vielen Gemeinden gibt es inzwischen Engagierte, die gar nicht Mitglied der Kirche sind. Mit diesen Menschen wollen wir ins Gespräch kommen und auch versuchen, sie an uns zu binden. Darauf müssen wir den Blick lenken und dabei auf gar keinen Fall die Erwartungen der Kirchenmitglieder vernachlässigen, die treu zu uns stehen.

Auch Parteien und Sportvereine merken, dass viele junge Menschen heute vor einer festen ­Mitgliedschaft zurückschrecken. Diskutiert wurde in der evangelischen Kirche über eine „Mitgliedschaft light“ oder „Kirchensteuer light“. Wird das kommen?

Es gibt die Überlegung, Berufseinsteigern eine größere Aufmerksamkeit zu widmen. Das kann ­geschehen durch Mitsprache und Beteiligung auch für diejenigen, die noch nicht Mitglied der Kirche sind.

… und die dann auch weniger ­Kirchensteuer zahlen?

Das wird mit Sicherheit heiß ­diskutiert werden.

Als eine andere Strategie schlägt Ihr Zukunftspapier Kooperationen mit anderen Akteuren der Gesellschaft vor. Wird die evangelische Kirche künftig eher eine Nichtregierungsorganisation (NGO)?

So sehen wir uns nicht. Wir sind Teil der säkularen Gesellschaft, aber zugleich ihr Gegenüber. Wir haben einen besonderen Auftrag, nämlich die Verkündigung des Evangeliums, den wir auch nicht kleinreden wollen. Genau deshalb bieten sich aber Kooperationen an.

Gleichzeitig wird angekündigt, dass sich die Kirche künftig „sparsamer“ zu gesellschaftlichen Prozessen äußern wird. Ist das nicht ein Widerspruch – und ein angekündigter Rückzug aus der Öffentlichkeit?

Ganz sicher nicht, denn der Anspruch des Evangeliums, den wir vertreten, ist öffentlich. Es geht auch nicht um „sparsamer“, sondern um klarer in der Fokussierung auf die Botschaft des Glaubens. In der ­Konzentration liegt am Ende eine größere Chance, sich Gehör zu verschaffen.

Über den Plan für die Zukunft muss die Synode im November in Berlin entscheiden. Bleibt es dabei trotz Pandemie?

Wir planen eine sehr konzentrierte Präsenzsynode mit Hygienekonzept, also ohne die sonst vielen Gäste und Empfänge, mit digitalen Ausschusssitzungen und zeitlich reduziert. Voraussichtlich werden wir nur für zweieinhalb Tage zusammenkommen. Schon vorher wird es digitale Ausschusssitzungen geben.