Drei Schritte nur sind es, drei Schritte zurück, die einen Raum öffnen, in dem das Gegenüber anders wahrgenommen werden kann. Es ist plötzlich Platz genug für ein Verbeugen, für die Handreichung und auch für den Schritt aufeinander zu. Mit dieser einfachen Form des Bewegens wird das im Kaddisch gesprochene Wort sichtbar, spürbar und zum Handlungsimpuls: „Der, der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, er stifte Frieden unter uns“. Ruth Röcher zitiert im Gespräch diese Zeilen und lächelt. Es macht ihr Freude, der jüdischen Weisheit nachzusinnen. „Das Judentum ist so klug, so menschennah“, sagt sie. Es gebe dem Menschen Halt. Und Halt brauche der Mensch. Immer, aber vor allem in Krisenzeiten.
Ruth Röcher, 1954 in Israel geboren, gibt weiter, was sie für sich selbst entdeckt: In der jüdischen Gemeinde ist sie seit 2006 Vorsitzende. Und sie ist Pionierin, was die Etablierung des jüdischen Religionsunterrichts im Bundesland Sachsen betrifft. Seit 2019 ist dort jüdische Religion als Schulfach anerkannt. „Das ist wirklich mein Kind“, sagt die diplomierte Pädagogin. Seit 1994 hat sie bei politischen Entscheidungsträgern unentwegt dafür geworben. Am Ende bei Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), bei dem sie den wohl stärksten Fürsprecher fand. Gerade gibt es den ersten sächsischen Schüler, bei dem jüdische Religion im Abiturzeugnis steht. Ein Meilenstein.
Schule ist Röchers lebensthema
Schule ist Ruth Röchers Lebensthema. Promoviert hat sie über „Die jüdische Schule im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1942“, und dieser Forschungsauftrag gründete durchaus in der eigenen Biografie: „Ich stamme aus einer Familie mit Holocaust-Überlebenden.“ Allein aus der Familie ihres Vaters seien über 100 Menschen von den Nazis ermordet worden. Kinderseelen, sagt sie, sollten nie wieder solchen Schaden nehmen wie im nationalsozialistischen Deutschland. „Sie unterlagen der Schulpflicht, hatten die deutsche Staatsbürgerschaft, wurden aber erzogen zu einer Gesellschaft, die sie nicht haben wollte.“ Damals suchten die jüdischen Gemeinden nach Lösungen und gründeten Privatschulen mit eigenen, veränderten Lehrplänen. In Chemnitz wurden die jüdischen Kinder in einer Baracke auf dem jüdischen Friedhof unterrichtet: „Im Sport rannten sie zwischen den Gräbern herum.“

Seit 1976 lebt Ruth Röcher im Land der Täterinnen und Täter. Der Liebe wegen. Auf einem Roadtrip durch Israel hatte sie Anfang der 1970er-Jahre ihren Mann kennengelernt. Heinz Walter Röcher war als Teilnehmer einer der ersten deutsch-israelischen Jugendbegegnungen im Jahr zuvor im Land gewesen, nun wollte er mit zwei Freunden noch einmal auf eigene Faust unterwegs sein. Die drei Jungs suchten Begleitung – und fanden sie bei Ruth und ihren Freundinnen. Per Anhalter ging es nur paarweise. Aus der Zweck- wurde eine Lebensgemeinschaft.
Jüdisches Leben in Deutschland
„Mir war allerdings klar, dass ich in Deutschland nur sein könnte, wenn ich dort im jüdischen Leben wirksam wäre“, sagt Röcher. Diese Möglichkeit gab es für sie im Siegerland, wo sie und Heinz Walter heirateten, nur bedingt. „Mein jüdisches Leben habe ich erst einmal zu Hause praktiziert. Später habe ich mich als jüdische Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit engagiert. Anschluss hatten wir an die Jüdische Gemeinde in Dortmund.“
Mit dem Sommer 1989 veränderte sich die Perspektive: „Bei meiner Promotion führten mich meine Recherchen für drei Wochen auch nach Potsdam, ins Zentralarchiv der DDR. In der Folge landete eine Anfrage der Jüdischen Gemeinde in Westberlin bei mir. Ob ich mir vorstellen könnte, mit in ein Ferienlager nach Rügen zu fahren, um dort mit jungen Menschen aus den jüdischen Gemeinden der DDR zu arbeiten.“ Ruth Röcher konnte es sich vorstellen.
Visionäre Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz
In der Folge intensivierten sich die Kontakte – auch zum visionären Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, Siegmund Rotstein (1925–2020). Und dann fiel die Mauer. Ruths Ehemann war als Vermessungstechniker in der nun ehemaligen DDR gefragt. Die Idee, vielleicht in Sachsen zu leben, nahm Gestalt an. Als dann Siegmund Rotstein auf ihre Frage, ob sie womöglich in Chemnitz gebraucht würde, antwortete „Komm, und fang mal an!“, taten die Röchers 1994 einen für sie entscheidenden Schritt. „Wir haben unsere Sachen gepackt.“ Als Religionspädagogin arbeitete Ruth Röcher in Sachsen bis 2019 in dieser Funktion für die Gemeinden in Chemnitz, Dresden und Leipzig.
Als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz agiert sie seit einigen Jahren von einem Provisorium aus. Die 2002 neu erbaute Synagoge befindet sich wegen baulicher Mängel und sicherheitstechnischer Maßnahmen in einer Sanierungs- und Umbauphase. „Wir hoffen auf eine Wiedereinweihung im Frühjahr 2026“, sagt Ruth Röcher. Bis dahin lernt, singt und betet die Gemeinde in einem Multifunktionsraum. Mit Blick auf den Einen, der Frieden schafft.
Die Jüdische Gemeinde Chemnitz beteiligt sich am Kulturhauptstadtjahr 2025 mit eigenen Veranstaltungen. Ein Höhepunkt wird das Laubhüttenfest (Sukkot) im Stadthallenpark vom 5. bis 13. Oktober sein.