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Russischsprachige Telefonseelsorge berät Anrufer aus aller Welt

Einsamkeit, Existenzangst, Trauma: Die russischsprachige Telefonseelsorge Doweria berät bei psychischen Belastungen aller Art. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat sich die Zahl der Anrufer verdreifacht.

Viele Anrufe kommen nachts. Deshalb steht auch ein Bett in dem Büroraum der Einrichtung, die im Osten Berlins liegt. Wer Dienst hat, kann sich hier ausruhen und auch mal die Augen schließen, wenn gerade kein Anruf kommt – was eher selten der Fall ist, sagt Tatjana Michalak, Leiterin der russischsprachigen Telefonseelsorge Doweria. “Vertrauen” heißt das übersetzt.

“Gerade nachts, wenn alles ruhig ist und man nicht abgelenkt wird, kommen bei vielen Menschen Gedanken und Sorgen hoch”, erklärt die 51-Jährige. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine habe sich die Zahl der Hilfe suchenden Menschen bei ihrer Beratungsstelle verdreifacht. Sie melden sich an sieben Tagen die Woche, rund um die Uhr, auch an Feiertagen.

Zwar rufen die meisten Menschen aus Deutschland an. “Aber es kommen auch viele Anrufe aus anderen Ländern, eigentlich aus aller Welt”, erzählt Michalak – “auch aus dem Kriegsgebiet, sogar vom Schlachtfeld”.

Die Telefonseelsorge, die 1999 gegründet wurde, ist ein Angebot der Diakonie Berlin-Brandenburg schlesische Oberlausitz. Bei Doweria arbeiten ausschließlich Menschen aus dem postsowjetischen Raum, aus Kasachstan, Russland oder der Ukraine etwa. Sie gehören unterschiedlichen Religionen an. “Bei uns gibt es Christen, Juden und Muslime. Die russische Sprache verbindet uns alle. Und wir sind alle gegen Krieg, Menschenfolter, gegen Gewalt und Diktatur”, sagt Michalak.

So wie die Ukrainerin Tatjana G., die sich zur Zeit bei der Einrichtung als ehrenamtliche Telefonseelsorgerin ausbilden lässt, um anderen Menschen Trost zu spenden. Sie floh vor ein paar Monaten aus Charkiw im Osten der Ukraine. “Dort ist alles zerbombt, alles weg. Ich habe dort keine Bleibe mehr.” Die 49-Jährige versuchte bereits am Anfang des Krieges 2022 nach Berlin zu kommen. An der Grenze wurde sie dann aufgehalten. “Man ließ mich nicht raus, weil ich Ärztin war. Ich sollte den Ukrainern mit meiner Tätigkeit helfen”, berichtet die Allgemeinmedizinerin.

Erst ein paar Monate später gelangte sie mit einem Kinderfluchttransport aus Mariupol nach Deutschland, den sie als Ärztin begleitete. Seitdem lebt sie mit ihrem Sohn in Berlin. “Ich fühle mich hier sehr wohl und bin unglaublich froh, hier zu sein”, sagt sie. Einrichtungs-Leiterin Michalak ergänzt: “Tatjana ist immer optimistisch. Sie ist bereit, anderen Menschen zu helfen, obwohl sie es selbst nicht leicht hat.”

Die inneren Konflikte, unter denen Anrufer leiden, sind ganz unterschiedlich. Vor allem posttraumatische Belastungsstörungen haben seit Kriegsbeginn zugenommen, aber es melden sich auch viele wegen Depressionen, Existenzängsten oder Einsamkeit, sagt Michalak: “Wir können die Situationen nicht ändern, in denen sich Menschen befinden. Wir können nur versuchen, mit ihren Gefühlen zu arbeiten und helfen, auf dieser Grundlage Entscheidungen zu treffen”.

Ein großes Thema sei die Sorge um die Familie in der Ukraine – und seit dem Hamas-Angriff auch in Israel: “Es gibt ja in Deutschland einige jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine, die Verwandte in Israel haben”, sagt Michalak.

Aus Russland direkt riefen zwar keine Menschen an, erklärt sie. Aber es hätten sich schon Russen aus anderen Ländern gemeldet, die dort etwa nicht ins Hotel gelassen würden wegen ihres russischen Passes. “Das war gerade zu Kriegsanfang so”, sagt Michalak.

Sie selbst lebt seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland, wanderte mit 18 Jahren zusammen mit ihrer Familie aus dem westukrainischen Tschernowitz nach Berlin aus. Welche Anrufe gehen ihr noch lange nach, welche nehmen sie am meisten mit?

Die Psychologin erinnert sich an den Anruf einer Mutter aus der Ukraine nach Ausbruch des Krieges. “Seit zwei Monaten hielt sie ihren Sohn im Keller versteckt. Sie wollte nicht, dass das ukrainische Militär den 16-jährigen einzog. Und sie wollte nicht, dass er in russische Gefangenschaft geriet. ‘Was soll ich nur tun?’, fragte sie mich immer wieder. ‘Mein Sohn schreit, dass er raus will, dass er zu allem bereit ist, auch bereit zu sterben – nur gefangen sein, das will er nicht mehr.'”

Tatjana Michalak weiß nicht, wie die Frau sich entschieden hat und was aus ihr und ihrem Sohn geworden ist. Alle Anrufer der Telefonseelsorge sind anonym; die Mitarbeiter können sie nicht zurückrufen, sehen die Nummer nicht. Und irgendwann rief die Frau nicht mehr an. “Wir wissen nicht, wie die Geschichten von den Menschen ausgehen, die sich bei uns melden”, sagt Michalak: “Es ist etwas, das wir aushalten müssen.”