Ein direkter Treffer im arabisch-israelischen Tamra machte klar: Raketen aus dem Iran differenzieren nicht zwischen Volk oder Religion. In Israels arabischer Minderheit sitzt der Schock tief – und der Wunsch nach Frieden.
Tamra ist ein Ort, der seine Toten nicht vergisst. Vor den halbrunden weißen Gedenksteinen auf dem Friedhof, der von der alten Moschee den Hang ansteigt, blühen Blumen, gehegt und gewässert: Tagetes und Petunien, der Ägyptische Sternhaufen und das bescheidene Löwenmäulchen. Vier neue Gräber sind hinzugekommen, für die Opfer eines iranischen Raketenangriffs. Sie finden ihren Platz ganz oben auf dem Friedhof, wo man hinüberblickt zum Karmel-Gebirge im Südwesten und zur Großstadt Haifa.
Der Schmerz des Vaters, der fassungslos über dem Grab seiner Frau und Töchter hängt, geht durch Mark und Bein. Mit dem Leid der Hinterbliebenen teilen die vielen hundert Menschen, die zur Trauerfeier gekommen sind, die Erkenntnis, dass man der iranischen Bedrohung schutzlos ausgeliefert ist.
Es war Samstagnacht, als eine ballistische Rakete aus dem Iran den israelischen Abwehrschirm durchbrach und in einem Wohnhaus in Tamra detonierte. Eine Frau, ihre zwei Töchter und ihre Schwägerin starben. Der Schlag erschütterte das Sicherheitsgefühl der arabischen Minderheit im Land – und entfachte eine Diskussion über Zivilschutz und strukturelle Benachteiligung in Israels arabischen Gebieten, über die Wahrnehmung arabischer Israelis und über den gesellschaftlichen Zusammenhalt überhaupt.
Eigentlich sollten in Tamra die gleichen Zivilschutzstandards gelten wie überall im Land. Die 37.000 muslimischen Einwohner sind israelische Bürger; sie zahlen Steuern und haben nach dem Gesetz die gleichen Rechte wie ihre jüdischen Mitbürger. Während aber in jüdisch bewohnten Orten öffentliche Schutzräume eine flächendeckende Selbstverständlichkeit sind, gibt es in Tamra faktisch keine. Auch Bunker in Privathäusern sind selten.
Orte wie Tamra erhielten einen Bruchteil der staatlichen Gelder für Maßnahmen zum Bevölkerungsschutz, heißt es im Ort. Baugenehmigungen seien für arabische Israelis mit wesentlich höheren Hürden verbunden. Die Konsequenz: Schwarzbauten, bei denen niemand Bauvorschriften einhält, die seit Jahrzehnten Schutzräume für jede Wohneinheit vorsehen. Kommunaler Filz tut sein Übriges.
Im Fall von Manar Khatib, ihren Töchtern Hala und Shada und Schwägerin Manar Diab half der vorhandene Schutzraum nicht. Die Rakete aus Teheran traf die Frauen direkt, riss die verstärkten Wände ab, als seien sie Pappmaché. Noch Straßenzüge weiter ließ die Wucht der Druckwelle Scheiben zersplittern. Über der Verwüstung hängt auch Tage später noch der Geruch des Todes.
Die Menschen in Tamra sind dankbar für die jüdischen Nachbarn, die gekommen sind, um ihre Anteilnahme zu bekunden. Anders als in den jüdischen Städten Rischon LeZion und Bat Jam ließ die politische Spitze des Landes auf sich warten. Erst am Mittwoch kam etwa Präsident Isaac Herzog in die arabisch-israelische Kleinstadt. Schneller waren da extremistische Stimmen im Land. Tamra solle brennen, wünschten sie unmittelbar nach dem Beschuss in einem Video, das in Sozialen Netzwerken kursierte.
Die Rakete habe den Hass ans Tageslicht gebracht, sagen Bewohner Tamras. Dabei säßen sie doch alle im selben Boot. “Wenn es regnet, dann werden wir alle nass”, formuliert es Abu Glal Mreh. Jetzt regnet es Raketen, die “nicht zwischen Muslimen, Christen oder Juden unterscheiden”.
Im lilafarbenen “Standing together”-T-Shirt organisiert Mreh einen Solidaritätsbesuch jüdischer Nachbarn. Unter ihnen ist Schulamit. Die Sozialarbeiterin aus dem benachbarten Kirjat Ata hat Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. “So viel Schmerz” sei hier vereint: das persönliche Leid der Familie, der unnötige Tod unschuldiger Menschen, Hass und Gewalt in der zerrissenen Gesellschaft Israels.
Frieden und Koexistenz seien die einzige Lösung für den viel zu lange andauernden Konflikt, betonen sie immer wieder. “Ich bin überzeugt, dass wir bessere Tage erleben werden”, sagt Shadi. Seine Wohnung steht dem Haus der Khatibs gegenüber. Im jetzt glaslosen Fenster sitzen die Nachbarn und versuchen, das Geschehene zu begreifen. Anders als viele seiner arabischen Landsleute glaubt Shadi, dass Israels militärisches Vorgehen gegen die nukleare Bedrohung aus dem Iran richtig und nötig war.
Die wichtigste Frage aber bleibt unbeantwortet: was sie für den hohen Preis des Krieges am Ende bekommen. “Was wird dabei am Ende rauskommen?”, fragt einer aus der Runde der Nachbarn. Bislang seien es “nur Tote auf allen Seiten”.
Im Gemeindezentrum von Tamra, wo die Männer des Ortes ihre Kondolenzbesuche halten, steht eine Vitrine mit Miniaturlandschaft. Liebevoll gestaltete Szenen zeigen das Leben in einem palästinensischen Dorf: einen Bauern bei der Olivenernte, Frauen beim Backen, einen Esel, der ein Schöpfrad am Brunnen dreht, Männer und Frauen beim Reigentanz. So schön könnte das Leben sein. Von dieser Realität ist das Land weiter entfernt denn je.