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Psychologin: Ukrainer leben zwischen Albtraum und Alltag

Die Greifswalder Professorin Eva-Lotta Brakemeier appelliert, die humanitäre Lage in der Ukraine nicht zu vergessen. Anteilnahme und Beistand seien nach wie vor wichtig.

Vor einem “Gewöhnungseffekt” in Bezug auf das Leiden der ukrainischen Bevölkerung warnt die Greifswalder Psychologin Eva-Lotta Brakemeier. “Es ist wichtig, dass wir nicht verdrängen, wie Menschen in nur elf Autostunden Entfernung leben müssen. Sie brauchen nach wie vor unsere Anteilnahme”, betont die Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Greifswald im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Es gehe in den Nachrichten vor allem um Waffenlieferungen, während das alltägliche Kriegsleid vergessen zu werden drohe.

Brakemeier bereiste in den vergangenen Monaten zwei Mal als Teilnehmerin von Delegationen die Ukraine. Sie besuchte dort die Regionen Tschernihiw, nördlich von Kiew, und Lwiw im Westen des Landes. Dort sei sie auf Menschen getroffen, die zwischen “Albtraum und Alltag, zwischen Verzweiflung und Hoffnung” lebten, erklärte sie. “Angesichts der Länge des Krieges und dem unsicheren Ausgang sind die Menschen in Trauer und Verzweiflung. Gleichzeitig berichten sie aber von der Unterstützung, die sie erfahren haben”, sagt Brakemeier. So würden sich Ukrainer untereinander bei ihrer Trauerarbeit helfen und hätten etwa gemeinsame Rituale entwickelt.

In der Stadt Drohobytsch im Regierungsbezirk Lwiw gebe es etwa eine Trauerallee. Wenn man sie durchschreite, komme man an unzähligen Fotos von Gefallenen vorbei. “Dort treffen sich Freunde und Familien und andere Ukrainer, die ihre Solidarität ausdrücken wollen”, berichtet die Professorin. Es werde dort gesungen und der Verstorbenen gedacht. Habe man anfangs geglaubt, die Allee sei viel zu lang, müssten inzwischen Bilder wieder abgehangen werden, um Platz für Fotos neuer Gefallener zu schaffen. “Für viele ist die Allee ein bedeutsamer Ort, weil sie dort Unterstützung bekommen und Beistand erfahren”, sagt Brakemeier. Nicht umsonst heiße es, dass geteiltes Leid halbes Leid sei.

In Krisen und im Krieg ist der Psychologin zufolge nichts so wichtig wie Beziehungen. “Sich nicht allein zu fühlen, zu merken, dass die eigene Not gesehen wird, dass andere helfen”, beschreibt sie. Auch die Delegationen aus Mecklenburg-Vorpommern hätten in dieser Hinsicht die große Dankbarkeit der Menschen vor Ort gespürt. “Sie waren sehr froh, dass wir gekommen sind”, berichtet Brakemeier. Menschliche Anteilnahme sei ein wertvolles Zeichen.

Unter anderem begleitete die Professorin eine Delegation um die mecklenburg-vorpommerische Wissenschaftsministerin Bettina Martin (SPD), die vor Ort etwa Kooperationen mit ukrainischen Regionalkrankenhäusern vereinbarte. Brakemeier selbst bot auf den Reisen Workshops zu Trauerstrategien an.