Jugendheim, Psychiatrie, zurück zur Mutter – und wieder in eine Wohngruppe. „Und jetzt will meine Betreuerin, dass ich wieder in die Psychiatrie gehe“, sagt Sandra. Die 19-Jährige will das nicht, es macht ihr Angst. Deshalb ist sie in Hamburg in einen Zug nach Dortmund gestiegen.
„Ich halte das nicht aus, eingesperrt zu sein“, sagt sie. Drei Frettchen und eine Tasche mit ein paar T-Shirts und einem gerahmten Bild ihrer Mutter, die vor einigen Monaten an Krebs gestorben ist: Das ist ihr Fluchtgepäck. Darin liegen Scherben, der Rahmen ist zerbrochen. „Meine einzige Erinnerung an meine Mutter“, sagt sie mit Tränen in den Augen. Und auch ihr Leben liegt in Scherben. Auf der Flucht vor ihrem Vormund beginnt sie jetzt, drei Zugstunden weiter südwestlich, ein Leben auf der Straße – nicht zum ersten Mal.
Nach dem Gesetz dürfte es das gar nicht geben
Rund 20 000 Jugendliche in Deutschland leben ganz oder teilweise auf der Straße, wie Hilfsorganisationen und Sozialforscher schätzen. Im Armutsbericht von 2005 ging die Bundesregierung von 7200 Minderjährigen und jungen Erwachsenen auf der Straße aus. Aktuelle offizielle Statistiken dazu gibt es nicht. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) lässt derzeit die Größenordnung der Jugend auf den Straßen erforschen.
Dabei gilt Deutschlands Jugendhilfegesetz als eines der fortschrittlichsten der Welt: Kinder haben hiernach ein Recht auf Erziehung, um sich zu einer „eigenverantwortlichen Persönlichkeit“ zu entwickeln – sogar bis sie 27 sind. Unter 18-Jährige ohne Obhut darf es nach diesem Gesetz gar nicht geben: Versagen die Eltern, übernimmt das Jugendamt und soll individuelle Lösungen finden – zusammen mit den Kindern.
Und dennoch leben Tausende Kinder auf der Straße – die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie die Geschichten, die die Kinder auf der Straße erzählen. wie die von Naomi aus Essen: Sie ging schon als Grundschulkind nur zum Schlafen nach Hause – und dann am liebsten nur, wenn alle anderen schon schliefen. Ihr Vater misshandelte sie schwer: verbrennungen und blaue Flecken schienen aber weder Ärzten noch Erziehern und Lehrern verdächtig. Sie selbst erzählte niemandem von der Gewalt – aus Angst vor noch mehr Schlägen. Für die staatliche Jugendhilfe blieb sie so unsichtbar. Kinder wie sie tauchen in keiner Statistik auf, bleiben eine Dunkelziffer.
Sandra hingegen kennt viele Einrichtungen der Jugendhilfe – und glaubt nicht mehr an diese Hilfe. „Das bringt alles nichts, das kenn ich alles schon“, sagt die 19-Jährige. In wie vielen Jugendhilfe-Einrichtungen sie schon war, kann sie gar nicht mehr aufzählen. Seit ihrem 13. Lebensjahr lebt sie schon so. Sie leidet unter Borderline, einer Persönlichkeitsstörung mit extremen Stimmungsumschwüngen. Immer wieder war sie in den Wohngruppen in Schlägereien verwickelt, auch bei ihrer Mutter arteten Streits schnell zu Prügeleien aus. Und immer wieder lief Sandra aus Jugendheimen fort, lebte in Parks oder an Hauptbahnhöfen überall in Deutschland.
Von solchen Odysseen erzählen viele Straßenkinder. „Viele sind schwer traumatisiert von Gewalt und Vernachlässigung in zerrütteten Elternhäusern“, sagt Jörg Richert, Vorstand des Bündnisses für Straßenkinder in Deutschland, ein Zusammenschluss von mehr als 20 Organisationen. Viele Jugendheime sortierten die ganz schwierigen Fälle aber aus, hätten starre Konzepte mit vielen Verhaltensregeln. Wer sie nicht einhalte, müsse gehen. „Hilfe wird an Bedingungen gekoppelt, die einige Kinder nicht einhalten können, weil sie zu tief in Problemen stecken“, sagt Richert, der im Hauptberuf Geschäftsführer des Berliner Vereins Karuna ist, der mit Straßenkindern arbeitet.
Die „Ständige Vertretung der Straßenkinder“, ein aus dem Bündnis für Straßenkinder entstandener Zusammenschluss von Jugendlichen, fordert deshalb „Housing First“. Das Konzept kommt aus den USA und setzt darauf, Obdachlose schnell und ohne Bedingungen Wohnraum zu vermitteln.
Naomi hat Hilfe gesucht und gefunden
Sie müssen dafür weder drogenfrei leben noch sofort an den Ursachen ihrer Problemen arbeiten, sondern werden erst versorgt und stabilisiert – um dann in Ruhe einen individuellen Weg zu finden. „Wer mit Hunger, Sucht und Angst von der Straße kommt, kann nicht sofort in einer verregelten Einrichtung an seiner Wohnfähigkeit arbeiten und sie beweisen“, sagt Richert.
Sandra lebt inzwischen seit vier Monaten auf der Straße, hat gehungert, gestohlen und immer wieder die Stadt gewechselt. „Ich wünsche mir ein Leben mit Wohnung, Arbeit, einer Freundin und meinen Frettchen“, sagt sie. Und dass sie sich um Hilfe kümmern wolle. „Bald“, fügt sie hinzu.
Naomi hingegen, die als Kind vom Vater misshandelt wurde, hat das schon getan – und es wohl auch geschafft. Sie lebt inzwischen in einem Wohnheim für obdachlose Frauen und macht eine Traumatherapie. Noch immer quälen sie „Flashbacks“, die sie in eine Realität springen lassen, in der sie die Misshandlungen wieder und wieder erlebt. Aber sie lernt, mit dem Schmerz zu leben. Und findet: Es gibt immer einen Weg zurück.