Zum Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel sind viele Kundgebungen auch in Deutschland geplant. Ein im interreligiösen Dialog engagierter Münchner Wissenschaftler stemmt sich gegen einseitige Solidarisierungen.
Der Münchner Orientalist Stefan Jakob Wimmer blickt mit Sorge auf Veranstaltungen in Deutschland zum ersten Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel. Er fürchte, dass es bei vielen Kundgebungen wieder zu “selektiven Lagersolidarisierungen” komme, sagte er am Freitag in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). “Das Leid anderer wird geringer gewertet oder gar verschwiegen.” Antisemitismus und Islamfeindlichkeit sollten gemeinsam bekämpft werden, “dann wird dieser Kampf glaubwürdig und effektiv”.
Wimmer engagiert sich mit seiner Gesellschaft “Freunde Abrahams” für den interreligiösen Dialog, insbesondere von Juden, Muslimen und Christen. Die Widerstände dagegen seien seit dem 7. Oktober 2023 “noch stärker geworden”, bedauerte er. “Dabei brauchen wir gerade jetzt mehr davon. Dazu gehört auch, Positionen auszuhalten, die wir nicht selbst vertreten, vielleicht nicht einmal anhören wollen.”
Es müsse verhindert werden, dass der Konflikt im Nahen Osten das kulturelle und religiöse Miteinander in Deutschland vergifte, sagte der Orientalist. “Leider läuft seit einem Jahr viel in die falsche Richtung. Sprechverbote und Distanzierungsgebote wirken verheerend, gerade in Klassenzimmern, wo viele Schüler einen Migrationshintergrund haben.” Wenn da nicht umgesteuert werde, “verlieren wir eine ganze Generation”, warnte Wimmer.
Es bestehe die Gefahr, dass beim Vorgehen gegen Antisemitismus dieser de facto geschürt werde. Es mache ihn “fassungslos”, dass es kaum mehr möglich sei, für das Existenzrecht Israels einzutreten und zugleich auch für die Rechte der Palästinenser. “Ich halte es für fatal, sich nur mit einer Konfliktpartei als Ganzer zu solidarisieren statt mit den Opfern auf allen Seiten.” Auf beiden Seiten gebe es Menschen, “die den Konflikt gern friedlich und gerecht lösen würden, und solche, die das verhindern”.
Wimmer und seine Vereinigung planen für Sonntagabend nach einer großen Kundgebung gegen Antisemitismus und Gegendemonstrationen pro-palästinensischer Gruppen in der Münchner Innenstadt einen Schweigemarsch zum Friedensengel: ohne Reden, Fahnen, Plakate und Flugblätter. “Wir tragen einfach unsere Fassungslosigkeit auf die Straße, auf einem Weg der Stille”, sagte er. Das Motto lautet “Mach dich auf für Menschlichkeit!”