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O Jerusalem

Wächter gesucht. Gedanken zum Predigttext am 10. Sonntag nach Trinitatis, Israel-Sonntag. Von Marion Gardei, Pfarrerin und Beauftragte für die Erinnerungskultur in der EKBO in Berlin

Predigttext am 10. Sonntag nach Trinitatis: Jesaja 62, 6–12 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen’s auch essen und den Herr rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums. Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen „Heiliges Volk“, „Erlöste des Herrn“, und dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“.

Von Marion Gardei

Jerusalem ist mein Sehnsuchtsort. Nicht nur weil ich hier eine Weile gelebt und studiert habe. Jerusalem ist eine besondere Stadt, die schönste, die aufregendste, die verrückteste, nirgendwo anders gibt es so viele außergewöhnliche Menschen und Geschichten. Inspirierend, aber zugleich verwirrend und anstrengend. Die Luft von Jerusalem macht radikal, heißt es. Es gibt jede Menge Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Religionen und Ethnien, zwischen Ultra-Orthodoxen und Säkularen. „O Jerusalem …“

Vor 70 Jahren wurde der Staat Israel gegründet aus der Sehnsucht von Jüdinnen und Juden in aller Welt, ein eigenes Land zu haben als Zufluchtsort für die Verfolgten. Nicht mehr abhängig sein zu müssen von anderen Regierungen und deren Unterdrückung. Schon 2 500 Jahre zuvor richtete der Prophet in un – sicherer Zeit eine große Vision als frohe Botschaft an die in Babylon Verschleppten: Jerusalem wird wieder erbaut werden, und die deportierten Glaubensgeschwister werden dorthin zurückkehren. Jerusalem, die Tochter Zion, wird nicht nur zur alten Heimat werden, sondern zum neuen Anziehungspunkt aller Völker. Selbstbestimmt werden dort ihre Einwohnerinnen und Einwohner leben. Der neue Exodus wird in eine Freiheit führen, die sich in gerechten Machtverhältnissen manifestiert: Alle, die dort wohnen, sollen die Früchte ihrer Arbeit genießen dürfen, sollen selbst ernten, was sie gepflanzt haben.

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