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Notfallmedizin in Deutschland soll besser werden

Es ist ein dickes Brett, das der Bundesgesundheitsminister da bohrt. Er will die Notfallversorgung in Kliniken und Praxen sowie die Rettungsdienste modernisieren. Konflikte sind programmiert.

Die Zeit eilt. Der Bundestag will am Mittwoch in Erster Lesung über eine Reform der Notfallversorgung beraten. Das Gesetz soll auf jeden Fall noch vor der Bundestagswahl im Herbst 2025 in Kraft treten. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) beschreibt, was sich für Patientinnen und Patienten ändern könnte.

Warum ist eine Reform der Notfallversorgung notwendig?

Die medizinische Notfallversorgung in Deutschland ist nach Darstellung von Medizinern selber reif für die Intensivstation. Experten und Patienten beklagen überfüllte Notfallambulanzen in den Krankenhäusern, überlastete Ärzte und in falsche Behandlungsstrukturen geleitete Patienten. 2021 wurden in rund 1.600 Krankenhäusern mit Notfallambulanzen rund 9,8 Millionen ambulante Notfälle behandelt.

Warum entstehen diese Probleme?

Ein Drittel der Patienten komme mit Bagatell-Erkrankungen in die Notaufnahmen; sie könnten genauso gut vom Hausarzt oder vom Notdienst der niedergelassenen Ärzte behandelt werden, sagen Notfallmediziner. Darunter befänden sich extrem viele 80- bis 90-Jährige, die nicht schwer erkrankt seien, sondern nur angemessen gepflegt und versorgt werden müssten. Vielen Bürgern sei nicht klar, dass sie statt der Notrufnummer 112 auch die ärztliche Bereitschaftshotline 116 117 anrufen könnten.

Auch die Rettungsdienste sehen sich am Rand des Kollaps. Warum?

Auch bei den Rettungsdiensten gibt es offenbar riesige Probleme durch Überlastung und fehlendes Personal. 2020 und 2021 gab es nach Angaben des Deutschen Berufsverbands Rettungsdienst jährlich rund 13,1 Millionen Einsätze. Daraus entstanden rund 16,1 Millionen Einsatzfahrten. Die 112 werde häufig auch dann gewählt, wenn es sich nicht um einen akuten medizinischen Notfall handele, beklagen die Verantwortlichen. Der Rettungsdienst müsse aber auch in diesen Fällen ausrücken, weil sonst der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllt sein könnte.

Was will die Bundesregierung durch die Reform der Notfallversorgung ändern?

Das Ziel des am Mittwoch erstmals im Bundestag diskutierten Gesetzentwurfs ist eine bessere Steuerung der Patientinnen und Patienten sowie eine Entlastung der Beschäftigten in den Notaufnahmen und Rettungsdiensten. Dazu sollen der Notdienst der Kassenärzte, die Notaufnahmen der Krankenhäuser und die Rettungsdienste stärker vernetzt und Patienten besser gesteuert werden. “Im Notfall sollen Patientinnen und Patienten dort behandelt werden, wo sie am schnellsten und am besten versorgt werden. Das muss nicht immer das Krankenhaus sein”, betont Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). In vielen Fällen sei der ärztliche Notdienst viel sinnvoller. Häufig reiche auch der Besuch am nächsten Tag in der Hausarztpraxis.

Was ändert sich dann künftig für Patientinnen und Patienten?

Konkret sieht der Gesetzentwurf vor, die bestehenden Notdienstnummern von Rettungsdienst (112) und Kassenärzten (116 117) zu vernetzen. Hilfesuchende sollen unter beiden Nummern innerhalb von wenigen Minuten eine telefonische oder telemedizinische Ersteinschätzung der Akutleitstelle erhalten und dann der für sie am besten geeigneten Notfallstruktur zugewiesen werden. Während der Sprechstundenzeiten werden Hilfesuchende vorrangig in die vertragsärztlichen Praxen gesteuert. Ähnlich wird das auch in England, Dänemark und den Niederlanden gemacht. Dabei will der Minister konkrete Vorgaben für die personelle Besetzung, die Qualifikation des Personals und die zeitliche Erreichbarkeit der Anlaufstellen machen. Telemedizin-Ärztinnen und -Ärzte können für eine Einschätzung direkt zugeschaltet werden. Verbunden werden die Akutleitstellen auch mit Terminservicestellen: Arztbesuche sollen dann direkt am Telefon in die Wege geleitet werden können. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) müssen rund um die Uhr Hausbesuche insbesondere für immobile Patientinnen und Patienten bereitstellen.

Und wenn ich als Patient direkt zu einer Notfallambulanz ins Krankenhaus gehe?

Bundesweit sollen an ausgewählten Krankenhäusern Integrierte Notfallzentren für diejenigen Patienten aufgebaut werden, die sich direkt in eine Klinik begeben. Die Zentren sollen aus einer Notaufnahme des Krankenhauses, einer kassenärztlichen Notdienstpraxis sowie einem “Tresen” als zentrale Entscheidungsstelle bestehen. Auch hier sollen Patienten rund um die Uhr nach einer Erstbefragung entweder in die Notaufnahme oder die Notfallpraxis überwiesen werden. Streit gibt es hier zwischen Bund und Ländern: Die Länder wollen mitentscheiden, an welchen Krankenhausstandorten Notdienstpraxen eingerichtet werden sollen. Die Bundesregierung weist das zurück und betont, die Entscheidung sei Sache der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen.

Und was soll bei den Rettungsdiensten passieren?

Die Reform der Rettungsdienste ist im bisherigen Gesetzentwurf ausgespart und soll nachgeliefert werden. Erwartet werden schwierige Verhandlungen, weil Bundesländer und Kommunen mitziehen müssen. Aus Sicht der Techniker Krankenkasse greift eine Reform der Notfallversorgung ohne eine Reform des Rettungsdienstes aber deutlich zu kurz. “Das Rettungswesen gleicht derzeit einem Flickenteppich: Einheitliche Qualitätsvorgaben und Anreize für wirtschaftliches Handeln sowie Digitalisierung sucht man bisher vergebens”, erklärt der TK-Vorstandsvorsitzende Jens Baas.

Was ist konkret geplant?

Wesentlicher Baustein ist die Aufnahme des Rettungsdienstes als eigenständiger Leistungsbereich in das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch und eine Trennung der medizinischen Leistung und des Transports. Damit wäre eine bundeseinheitliche Abrechnung von medizinischen Leistungen über die Gesetzliche Krankenversicherung möglich. Außerdem sollen Krankenhäuser, Notfallpraxen der Kassenärzte und Rettungsdienste besser digital vernetzt werden. Zudem sollen bundesweite Mindeststandards für die personelle Ausstattung der Rettungsdienste, die Zahl der Leitstellen, die Qualifikation der Mitarbeiter und ihre Befugnisse entwickelt werden.

Gibt es Kritik an dem Gesetzentwurf?

Ärzteorganisationen wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung oder der Hausärztinnen- und Hausärzteverband sowie die Krankenkassen loben gute Ansätze. Sie zweifeln allerdings daran, ob genug ärztliches Personal dafür vorhanden ist – etwa für die vorgesehenen Hausbesuche oder die ausgeweiteten Zeiten des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Der Verband der Ersatzkassen fordert außerdem, dass die Akutleitstellen auch Verantwortung für die pflegerische und psychosoziale Notfallversorgung übernehmen. Gerade im psychosozialen Bereich fehlten flächendeckende Krisenhilfe-Infrastrukturen, so dass Menschen häufig in Notsituationen nicht die richtige Behandlung am richtigen Ort bekämen.