Palmen, Sandstrand, Meer. Abrantes, ein Vorort der Millionenmetropole Salvador da Bahia, könnte ein Traum sein. „Das hier ist ein Hauptumschlagplatz für Drogen und Kinderprostitution“, sagt Padre Luiz, römisch-katholischer Priester für mehrere kleine Orte, darunter Abrantes. Er zeigt zwei evangelischen Kollegen aus Deutschland, Olaf Lewerenz und Gunter Volz, sein Gemeindegebiet.
Der Flughafen ist nahe gelegen. Da machten viele auf der Durchfahrt einen Stopp, um einzukaufen. Rauschmittel oder Sex mit Minderjährigen. In Brasilien liegen Schein und Sein, Hochform und Abgrund dicht nebeneinander. Wer finanziell und sozial noch nicht abgerutscht ist, schottet sich mit aller Macht gegen das Elend um sich herum ab, so der Eindruck von Gunter Volz und Olaf Lewerenz.
Wohnen in abgesichertem Areal
Sobald Brasilianer es sich leisten können, ziehen sie in eine „gated community“, in ein abgesichertes Wohnareal. Mit den Menschen auf der Straße muss man dann nicht mehr in Kontakt kommen. Der Aufzug bringt einen in die Tiefgarage. Von dort geht es zur Privatschule der Kinder, ins klimatisierte Büro und in den bewachten Tennisclub.
Die Altstadt von Salvador leuchtet mit Barockkirchen und viel Gold. Gleichzeitig sind die Hügel ringsum mit Favelas überzogen. „Favela“ ist ein schillernder Begriff und muss nicht gleich Slum bedeuten. Es sind Viertel mit meist unverputzten Häusern ohne Balkon. Volz und Lewerenz waren mehrere Wochen im Land unterwegs. Die beiden evangelischen Pfarrer aus Frankfurt wollten wissen, wie die Kirchen auf die Krise reagieren und wie die Stimmung kurz vor den Olympischen Spielen ist.
Krise herrscht in Brasilien auf allen Ebenen. Regierungskrise, Wirtschaftskrise, Währungskrise, soziale Krise, Zika-Virus-Krise. Die Entscheidung für die Olympischen Spiele sei zu einer Zeit gefallen, in der man dachte, Brasiliens Wohlstand würde endlos wachsen, erfahren Volz und Lewerenz. Die spektakuläre Olympia-Radbrücke an der Küste von Rio ist nicht das einzige Projekt, das abgestürzt ist. Nach den eher schlechten Erfahrungen mit der Fußball-Weltmeisterschaft vor zwei Jahren ist die Bevölkerung nicht allzu gut auf die Olympischen Spiele zu sprechen. Das Land starrt in verschiedene Abgründe.
Die Krise hat viele Ursachen. Umso schwerer ist die Suche nach einem Mittel dagegen. Die Gesellschaft befindet sich im Abwärtssog und lebt auf Pump. In Brasilien kauft man alles auf Raten, die Milch genauso wie neue Schuhe. Die Preise, ob für Bohnen, Reis oder Energie, sind enorm gestiegen. Arbeitslosigkeit und Verarmung lässt die neu gewachsene Mittelschicht wieder zurückfallen.
Hohe Kriminalität in vielen Favelas
Olaf Lewerenz und Gunter Volz haben mit „CESE“ eine Favela besucht. Die vier Buchstaben stehen für „Coordenadoria Ecumênica de Serviço“, eine sozialdiakonische Organisation, die vor 40 Jahren von mehreren Kirchen gegründet wurde. „CESE“ ist Partner von „Brot für die Welt“. „Projetos que mudam vidas“ (Projekte, die Leben verändern) ist der Leitgedanke – zum Beispiel das Leben von Straßenkindern, Schwarzen und indigenen Frauen.
Mit Luana Nascimento Almeia, einer Journalistin von CESE, erleben Lewerenz und Volz eine Gedenkfeier in einer Favela. Vor einem Jahr haben hier Polizisten zwölf Jugendliche erschossen. Vielleicht aus Rache für den Tod eines ihrer Leute, in jedem Fall ein blutiger Willkürakt jenseits des Rechtsstaates. Für jeden der zwölf getöteten Jugendlichen hängt ein schwarzes T-Shirt mit seinem Namen an einer Wäscheleine, die über den Platz gespannt ist.
Die Formel „männlich, schwarz, jung ist gleich kriminell, also zu verhaften“ werde hier oft angewandt, erfahren die beiden Besucher aus Deutschland. Der Rassismus habe in Brasilien viele Gesichter. Es gibt Schwarze auf beiden Seiten, in den Favelas genauso wie bei den Polizisten, die mit roher Gewalt vorgehen.
Ein Pfarrer der baptistischen Gemeinde erinnert an die getöteten Jugendlichen. Er predigt über einen Bibelvers aus dem Prophetenbuch Amos. An diesem Platz, auf dem sie erschossen wurden, seien Ströme des Bluts geflossen, wo doch Recht und Gerechtigkeit strömen sollen. In Hörweite feiert die Pfingstkirche „Assembleia de Deus“ gerade einen Lobpreis-Gottesdienst – ungerührt von dem Gedenken, das auf dem Platz stattfindet. Pfingstkirchen haben in Brasilien großen Zulauf. Überhaupt sei die „religiöse Mobilität“ hoch, meint Volz.
42 Millionen der insgesamt 201,5 Millionen Brasilianer gehören laut aktuellen Zahlen den evangelikalen Kirchen an. Unter ihnen sind die Pfingstler mit 27 Millionen Mitgliedern die größte Gruppe. Noch halten 123 Millionen Menschen zu Rom und machen Brasilien zu dem Land mit den meisten Katholiken weltweit. Bei ihrem derzeitigen Zulauf werden die Evangelikalen sie in 15 Jahren überrunden.
Mit Optimismus gegen die Hoffnungslosigkeit
Schon jetzt stehen viele Pfingstkirchen für Größe und Erfolg. Protziges Paradebeispiel dafür ist „O Templo de Salomão“, der Tempel Salomos, den die evangelikale Pfingstkirche „Igreja Universal do Reino de Deus“ in São Paulo gebaut hat. 104 Meter lang, 55 Meter hoch, Platz für 10 000 Gläubige. Dagegen war der Tempel des biblischen Königs Salomo eine Schuhschachtel.
Wer sich zu dieser „Universalkirche vom Reich Gottes“ zählt, steht auf der Siegerseite. Wer arm ist, hat nicht genug gebetet, so die einfache Antwort auf das Elend ringsum. „Die Theologie der Befreiung, die Gottes Option für die Armen und Schwachen als gesellschaftskritischen Impuls hochhält und in die Öffentlichkeit bringt, spielt dort keine Rolle“, sagt Gunter Volz.
Die Krise sei überall sichtbar und hinterlasse ihre Spuren in den Gesichtern der Menschen, stellen Volz und Lewerenz fest. Trotzdem: Hoffnungslosigkeit sei ihnen wenig begegnet. „Der brasilianische Optimismus ist nicht kleinzukriegen.“