Ein Nomadenjunge aus der Mongolei sucht zwischen der sozialistischen Erziehung und dem indigenen Schamanismus, zu dem er berufen ist, nach seiner Identität: Galsan Tschinags Roman „Der weiße Berg“ aus dem Jahr 2000 ist autobiografisch grundiert. Der Schriftsteller gehört zu den Tuwa, einem schriftlosen Turkvolk in der nordwestlichen Mongolei. Dort war es vor 80 Jahren nicht üblich, das Datum der Geburt zu dokumentieren. „Jeder wird nach dem mongolischen Mondkalender, meist im Februar, ein Jahr älter“, erläutert Tschinags Ehefrau Sabine Gädecke. Demnach sei ihr Mann schon seit Februar 80 Jahre alt.
Um reisen zu können, musste sich der Autor aber ein offizielles Geburtsdatum zulegen: Am 26. Dezember 1943 ist er laut seinem Pass geboren, als Sohn einer tuwinischen Nomadenfamilie im mongolischen Altaigebirge in einer Jurte. Sein eigentlicher Name Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa, was „Pelzbaby“ oder „Fellchen“ heißt, war zu kompliziert für den Westen.
Ihm sitzt der Schalk im Nacken. Galsan Tschinag gleicht einem mongolischen Till Eulenspiegel. Er hat das niederdeutsche Volksbuch über den Schelm, der Streiche spielte, sich dumm stellte, aber klug war, auch ins Mongolische übersetzt. Als Tschinag 2004 in Frankfurt am Main die Festrede zur Amtseinführung des „Stadtschreibers von Bergen“ hielt, bezeichnete er sich als einen „gerissenen Spieler“. Denn das habe ihn seine „große Mutter“, eine Schamanin aus seiner mongolischen Heimat gelehrt: „Es ist doch alles nur ein Spiel.“
Tschinag kam 1962 als Stipendiat der Mongolischen Volksrepublik ans Herder-Institut in Leipzig, um Deutsch zu lernen und Germanistik an der Karl-Marx-Universität des sozialistischen Bruderlandes DDR zu studieren. Mongolisch, Tuwinisch, Kasachisch sprach er schon, und Kyrillisch konnte er schreiben. Bald schrieb er auch lateinische Buchstaben und Bücher in deutscher Sprache. Der Schriftsteller Erwin Strittmatter wurde sein Mentor.
1968 kehrte Tschinag in seine Heimat zurück und begann, deutsche Sprache und Literatur an der Staatsuniversität in Ulan Bator zu lehren. 1976 wurde ihm aus politischen Gründen die Lehrerlaubnis entzogen. Er schlug sich als Lektor und Journalist durch, übersetzte Gedichte von Kurt Tucholsky und gab Ende der 1980er Jahre eine Zeitschrift aus dem Geiste der Perestroika heraus. Seit 1991 verdient er seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller.
Mehr als 30 Bücher hat er seit 1981 publiziert: Liebesgedichte mit kosmischer Dimension, tuwinische Legenden, Erzählungen, autobiografische Romane und einen fulminanten Roman aus neun Träumen über den mongolischen Gründungsvater Dschingis Khan. 1992 erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Preis, der ausländische Autoren ehrt, die in deutscher Sprache schreiben, 2002 das Bundesverdienstkreuz.
Seine Sprache ist ungewöhnlich poetisch, voller Natur- und Traumbilder. Dichten und Schamane-Sein sei für ihn dasselbe, so hat Tschinag es immer wieder bei seinen Lesungen in Deutschland betont. Aber: „Tschinag schreibt nicht in Trance, er schreibt sehr wohlüberlegt“, erläutert sein früherer Suhrkamp-Lektor Wolfgang Schneider. „Es kommt ihm auf die spirituelle Wirklichkeit an.“ Und auf die Wirkung: „Ein Schamane heilt und beseelt, ebenso wie ein Gedicht einen Leser heilen und beseelen kann“, so Schneider.
Der Suhrkamp Verlag hatte Tschinag entdeckt, aber als sein Lektor 2011 ausschied, wechselte der Autor zum Schweizer Unionsverlag. Erst in diesem Herbst ist sein jüngstes Buch dort erschienen: „Kennst du das Haus. Weltenweite Reisejahre“, eine Reportagensammlung des jungen Journalisten, die seine Lebensromane abschließen soll.
Ein Drittel des Jahres reist der Dichter durch Deutschland, um vorzustellen, was er in einem weiteren Jahresdrittel in Ulan Bator zu Papier gebracht hat. Das letzte Drittel verbringt er als politisches und geistliches Oberhaupt bei seinem Volk im mongolischen Altai – ein Weltenwanderer.
Im Altai-Gebirge waren die Tuwa zu Hause, bevor sie im Zuge sozialistischer Planwirtschaft in den Osten der Mongolei umgesiedelt worden waren. 1996 führte Tschinag rund 4.000 Menschen über 2.000 Kilometer zurück nach Westen in den Altai. Unter dem Titel „Die Karawane“ (1997) hat er dieses Abenteuer dokumentiert, das er mit den Tantiemen seiner Bücher finanzieren konnte. Tschinag ist stolz auf seine „Erlebnisberichte“ – im Gegensatz zur Literatur als „Hirngespinst’“.