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Nichts als die Wahrheit?

Stets die Wahrheit zu sagen, fällt vielen Menschen schwer. Und es steht die Frage im Raum, ob es immer richtig ist, die Fakten schonungslos auf den Tisch zu legen. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ist etwas anderes als eine verantwortete Wahrheit

Antonioguillem - stock.adobe.com

Ein Mann lernt nach 40 Jahren Ehe eine junge Frau kennen und lässt sich von seiner Ehefrau und der Mutter seines Sohnes scheiden. Es ist der Chef des Suhrkamp-Verlags. Bei der Scheidung verspricht er, dass er dem Sohn den Verlag vererben würde – und kommt kostengünstig davon. Als der Sohn den Vater später an dieses Versprechen erinnert, antwortete er: „Und? Hast du’s schriftlich?“
Was geschieht, wenn wir den Worten des anderen nicht mehr vertrauen können? Vielleicht verzeihen wir es Politikern, wenn sie ein wenig schwindeln oder Unangenehmes verschweigen, wenn sie geschönte Wahrheiten oder Halbwahrheiten sagen. Vielleicht verzeihen wir es Journalistinnen, wenn sie die Wahrheit verbiegen, nur Teilwahrheiten schreiben oder die Wahrheit in einen verfälschenden Zusammenhang stellen.

„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“

Unseren Kindern bringen wir bei, dass die Werbung meist übertreibt, bisweilen lügt. Wir lehren sie mit allen Formen von Marketing in dieser Wettbewerbsgesellschaft informiert und kritisch umzugehen. Wenn jedoch in der Familie, dort, wo unser tiefstes Vertrauen wurzelt, gelogen oder das Wort gebrochen wird, dann trifft uns das ins Mark. Das kann der Grund für unheilbare Beziehungsbrüche sein.
Der wahrhaftige Umgang mit dem Wort ist nach biblischer Überzeugung die Grundlage jeder Gemeinschaft und jeder Gesellschaft. Das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten“ meint zwar ursprünglich die falsche Zeugenaussage vor Gericht. Es hat in der jüdischen und christlichen Auslegung aber mit Recht eine umfassendere Bedeutung.
Ohne die Wahrhaftigkeit unserer Aussagen, Versprechungen und Behauptungen, ohne deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, mit unseren Überzeugungen und Handlungen können wir keine Beziehung leben. Das gilt im privaten wie im öffentlichen Leben.
Deshalb verfügen wir in unserer demokratischen Gesellschaft über ein ganzes Arsenal von Instrumenten, um zum Beispiel die Medien bei der Wahrhaftigkeit zu behaften. Pressegesetze verpflichten Journalistinnen und Journalisten, bei der Darstellung eines strittigen Sachverhalts möglichst alle Seiten zu Wort kommen zu lassen. Sie gewährleisten das Recht auf Gegendarstellung.
Denn für eine demokratische Gesellschaft ist die Wahrhaftigkeit der Berichterstattung, die Ausführlichkeit der Recherche, um Informationen richtig einordnen zu können, ebenso wichtig wie sauberes Wasser. Oder umgekehrt: Eine Gesellschaft, die im Propagandanetz von Lügen versponnen ist, untergräbt sich selbst. Darum haben Juristen in der Strafjustiz ausgeklügelte Verfahren entwickelt, um der Wahrhaftigkeit der Aussagen vor Gericht möglichst nahezukommen: Zeugenaussagen, Gutachter, Beweismittel. Wir können uns gar nicht ausführlich und leidenschaftlich genug um Wahrhaftigkeit kümmern. Das gilt auch, wenn wir wissen, dass das letzte Urteil über das, was unbestreitbar gilt, erst am Ende aller Tage offenbar sein wird. Der Wahrheit letzter Schluss liegt bei Gott.

Hoffnung, dass am Ende die Wahrheit siegt

Die Vorläufigkeit unserer Bemühungen, wahrhaftig zu sein, empfängt Inspiration und Kraft aus der gewissen Hoffnung, dass am Ende die Wahrheit siegen wird. Heißt das nun, dass wir in allen Belangen verpflichtet sind, gegenüber dem anderen wahrhaftig zu sein?
Dietrich Bonhoeffer hat 1943 in seiner Tegeler Gefängniszelle zu dieser Frage mit einem Traktat angefangen, der jedem, der sich um die Wahrhaftigkeit der eigenen Worte müht, ein Leitfaden sein kann. Was veranlasst und berechtigt mich zum Sprechen?, fragt er dort. In welchem Zusammenhang steht das, was ich sage? Ist ein Kind zu verurteilen, dass wider besseres Wissen „Nein“ sagt, wenn ein bösartiger Lehrer fragt, ob sein Vater ein Säufer sei?
Wahrhaftigkeit ist kein Prinzip, dem bedingungslos zu folgen ist. Im Hintergrund dieser Fragen steht bei Bonhoeffer, dass er bei den Verhören selbst gelogen hat, um die Verbündeten des Widerstandes gegen Hitler und seine Familie zu schützen. Er wollte in dieser Ausnahmesituation sicherlich nicht die Verpflichtung von Christinnen und Christen außer Kraft setzen, wahrhaftig zu sein. Sein Leben im Dienst der Bekennenden Kirche ist selbst ein Beispiel für das wahrhaftige Aufdecken von verlogenen Machtverhältnissen und heillosen Tabus. Aber Bonhoeffer gibt uns auch zu bedenken, dass Wahrhaftigkeit kein abstraktes Prinzip ist, dem bedingungslos zu folgen ist, auch wenn es schlimme Folgen für andere Menschen hat.

Nicht zu jedem Zeitpunkt ist die Wahrheit gut

Wahrhaftig sein kann bedeuten, gegenüber mordlustigen Verbrechern oder überhaupt unter den Bedingungen einer Diktatur mit Lügen in Wahrheit für das Leben der Nächsten einzutreten. Die Forderung nach radikaler und absoluter Transparenz, wie sie heute auf der politischen Bühne von Wikileaks bis zur Piratenpartei vertreten wird, ist nicht dasselbe wie verantwortete Wahrhaftigkeit, welche die Folgen wahrhaften Redens für die betroffenen Menschen im Auge hat. Muss der Asylbewerber, der aus einem Kriegsgebiet geflohen ist, die Wahrheit über seinen Fluchtweg sagen, auch auf die Gefahr hin, dass er dann ins nächste Land abgeschoben wird? Kann ich meinem Kind zumuten, darum zu wissen, dass es in der Retorte gezeugt ist? Der Seitensprung? Muss er gebeichtet werden?
Der Philosoph Hegel hat gesagt: Die Wahrheit ist immer konkret. Sie betrifft Menschen immer in einer bestimmten Situation und zu einer bestimmten Zeit. Es ist nicht immer an der Zeit, in jeder Hinsicht zu jedem Menschen wahrhaftig zu sein. Aber das hebt die Verpflichtung jedes Menschen zu Wahrhaftigkeit nicht auf, sondern bestätigt nur, dass Wahrhaftigkeit dem Nächsten und seinem Wohlergehen dienen soll. Die wichtigste Anleitung für wahrhaftes Reden und Verhalten steht in Martin Luthers Auslegung des achten Gebotes im Kleinen Katechismus: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“