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Neues aus Cannes – Christian Petzolds “Miroirs No. 3” wird gefeiert

Ob “Die innere Sicherheit” oder “Toter Mann”, “Barbara” oder “Roter Himmel” – der deutsche Filmemacher Christian Petzold hat schon sehr viele Preise gewonnen. Sein neues Werk in Cannes könnte wieder Chancen haben.

Christian Petzold wird in Cannes als wahrer Cineast gefeiert. Bei der Premiere von brandete schon vor Beginn seines kontemplativen Dramas begeisterter Applaus auf, der ihm als Filmemacher persönlich galt. Eine solche Huldigung ist wohl nur in Frankreich möglich, und das Festival an der Côte d’Azur ist dafür der beste Ort – auch für das stille, konzentrierte Werk, mit dem Petzold seine Suche nach erzählerischer Einfachheit entschieden vorwärtstreibt.

Musikstudentin Laura (Paula Beer) überlebt auf dem Land in Brandenburg einen Autounfall, bei dem ihr Begleiter stirbt. Eine ältere Frau, Betty (Barbara Auer), kümmert sich um sie und nimmt sie in ihrem nahegelegenen Haus auf. Während Laura sich die ersten Tage im Bett vergräbt, umgibt Betty sie mit mütterlicher Fürsorge. Stellt Kaffee und Essen hin, legt neue Kleider zurecht und lässt ein paar Tage später auch das alte Klavier wieder stimmen.

Aus der ersten Hilfe wird unaufdringlich mehr, wobei es gar nicht eines Versprechers von Betty gebraucht hätte, um die Zusammenhänge zu erahnen: Statt Lauras Namen rutscht ihr kurz einmal “Yelena” über die Lippen.

Ganz offensichtlich haben sich hier die Wege zweier Frauen gekreuzt, die sich guttun, weil sie gegenseitig seelische Wunden lindern. Zu den beiden gesellen sich noch Bettys Mann (Matthias Brandt) und Sohn (Enno Trebs), die einige Minuten entfernt in der von ihnen betriebenen Autowerkstatt wohnen.

Von einem Plot lässt sich kaum sprechen; aus den von Hans Fromm mit großer Sensibilität fotografierten Momentaufnahmen erwächst ein Mosaik über vorsichtig auftauende Gefühle, während draußen die heißen Tage sacht in den Altweibersommer übergehen.

Doch während Betty und ihr Mann zunehmend befreiter wirken, kommt der Sohn mit dem Arrangement weniger klar. Bis es schließlich aus ihm herausbricht, dass sich seine Schwester das Leben genommen hat und Laura im Begriff sei, an deren Stelle zu treten.

Der rätselhafte Titel “Miroirs No. 3” lehnt sich an die gleichnamige Klaviersonate von Maurice Ravel an, die Laura bei ihrer Abschlussprüfung vorspielt. Das Motiv der Spiegelung oder wechselseitigen Übertragung, das der Komposition den Namen gibt, hat Petzold schon in früheren Filmen anklingen lassen.

Hier drängt es sich allerdings weniger auf als etwa in “Phoenix” oder “Gespenster”, da die Dialoge keinen großen Überbau intendieren. Vielmehr wird alles zu einem Bild mit sich allmählich aufhellenden Gesichtern und einem zarten Lächeln, das im Finale eine Öffnung auf die Zukunft hin andeutet.

Wie dieser Film brechen auch andere der in Cannes gezeigten Werke die Chronologie auf, gehen dabei aber weit exzessiver vor. So nutzt etwa die schottische Regisseurin Lynne Ramsay in mit wilder Entschlossenheit solche irritierenden Momente, um die seelischen Zustände der Protagonistin anzudeuten.

Grace (Jennifer Lawrence) ist mit ihrem Freund (Robert Pattinson) von New York in den Mittleren Westen gezogen. Im Haus eines toten Onkels fallen die beiden mit animalischer Lust übereinander her, wobei der übersteuerte Soundtrack nicht nur Musik, sondern auch die Geräusche des umliegenden Waldes für eine extreme Tonspur nutzt, bis die Bäume in einer Feuersbrunst entflammen. Doch diese Energie versiegt, als ein Baby zur Welt kommt und Grace in die Rolle der Mutter gedrängt wird, deren Begehren gänzlich ins Leere läuft. Denn Jack sucht das Weite und schafft sich lieber einen Hund an, als Grace beizustehen.

“Die, My Love” stürzt sich mit brachialer Wucht in das Erleben einer Frau, die mit ihrer Situation nicht klarkommt und in extreme Zustände abgleitet, die in verstörende Handlungen münden. Der wilde, exzessive Trip ist jedoch kein Selbstzweck, sondern stellt sich mit außergewöhnlichen stilistischen Mitteln in den Dienst seelischer Zustände.

Auch das japanische Drama “Renoir” von Chie Hayakawa nutzt die Erzähltechnik einer ziemlich losen Verknüpfung von Szenen, um von einer Leerstelle zu erzählen. Im Sommer 1987 erkrankt der Vater der elfjährigen Fuki (Yui Suzuki) an Krebs. Die überforderte Mutter plant vorsorglich schon die Beerdigung. Für die aufgeweckte Schülerin aber provoziert der Zusammenbruch des Vaters einen emotionalen Ausnahmezustand, der zwischen Ignorieren und Hoffen alle Angst beiseiteschiebt.

Realität und Fantasie gehen manchmal unvermittelt ineinander über. Die Inszenierung lässt sich viel Zeit für ihre fragmentarische Sammlung von Momenten und Erlebnissen. Insgesamt schlägt diese zwar einen Bogen von der Erkrankung bis zum Tod und in die Zeit danach. Aber an vielen Punkten sind die Fragmente eben doch a-chronologisch und eher einer poetischen Logik folgend angeordnet.

Einer der Filme in Cannes, die lange nachwirken und kontroverse Deutungen erfahren, ist das Road Movie von Oliver Laxe, das in Marokko spielt und von der Suche eines Vaters nach seiner Tochter handelt, die vor einem knappen halben Jahr verschwunden ist. Zusammen mit seinem Sohn taucht Luis bei einem abgelegenen Rave im Süden des Landes auf. Doch niemand scheint die junge Frau auf den Fotos zu kennen. Als plötzlich Militär das Treiben beendet, weil der Ausnahmezustand erklärt worden ist, schließen sich Vater und Sohn einer Gruppe Aussteiger an, die Richtung Tschad entkommen. Der Trip durch die Wüste und das Atlasgebirge birgt allerdings große Gefahren. Anfangs lässt sich manches durch Improvisation und Wagemut lösen, doch die Herausforderungen nehmen zu, und das Glück ist nicht immer auf der Seite der Reisenden.

Mit großer Kunstfertigkeit verbindet Laxe mächtige CinemaScope-Bilder von Sanddünen und schroffen Gebirgsformationen mit der basslastigen Techno-Musik und der Zeitlosigkeit des Raves, was als untergründiger Rhythmus den ganzen Film durchzieht. Doch schon zu Beginn des Films enthüllt ein Insert die Bedeutung des Titels, der eine Brücke zwischen Himmel und Hölle meint, schmal wie ein Haar und scharf wie eine Schwertklinge. Paradies und Verdammnis sind damit als Eckpfeiler einer Tour ins Ungewisse aufgerufen, die mit ihren grandiosen Bildern und hypnotischen Montagen den Atem raubt.