An den Tag nach Bekanntgabe der ForuM-Studie kann sich Christian Stalter genau erinnern. Es war ein Donnerstag Ende Januar, an dem die Forscher der Öffentlichkeit berichteten, wie groß das Ausmaß von sexualisierter Gewalt im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten war. „Und am nächsten Tag sollten unsere Konfis zu einer Wochenend-Freizeit aufbrechen“, erinnert sich der Pfarrer der Thomaskirche in Grünwald bei München mit leisem Schaudern.
Stalter ist die Erleichterung darüber, dass er den eilig einbestellten Konfi-Eltern das fertige „Schutzkonzept zur Prävention sexualisierter Gewalt“ der Gemeinde vorlegen konnte, noch immer anzumerken. „Das war eine große Entlastung“, sagt er – für die Eltern, aber auch für den Pfarrer selbst. Denn die 30-seitige Mappe ist mehr als nur bedrucktes Papier. Sie ist eine Art Keimzelle für einen Kulturwandel in der Gemeindearbeit – von der Sprache im Kirchenvorstand über die Begegnungen im Seniorenkreis bis zum Umgang in der Konfirmandenarbeit.
Die Thomaskirche ist, zusammen mit der Erlöserkirche in Augsburg die erste evangelische Gemeinde in Bayern mit einem fertigen Schutzkonzept. Im Herbst 2020 hatte die Landessynode das Gesetz zur „Prävention, Intervention, Hilfe und Aufarbeitung im Hinblick auf sexualisierte Gewalt“ verabschiedet. Es sieht vor, dass alle 1.536 Gemeinden bis zum 1. Januar 2026 ein individuelles Schutzkonzept vorlegen müssen. Derzeit stehen laut evangelischer Fachstelle Aktiv gegen Missbrauch „weit über hundert Gemeinden“ kurz vor dem Abschluss.
Die Grünwalder waren schon im Juli 2023 fertig: Leitbild, Verhaltenskodex, Schulung, Beschwerdemanagement, Präventionsbeauftragte, Vertrauenspersonen, alles ist genau beschrieben, damit der „worst case“ am besten niemals eintritt. Lukas Kalczinsky gehört zum Tandem der Vertrauensleute. Der 22-jährige Biologiestudent ist Teamer in der Konfi-Arbeit. Ihm geht es nicht nur um die Prävention von konkreter sexueller Gewalt, sondern schon um die Grenzverletzungen auf dem Weg dorthin. „Die meisten Mädchen haben mit 14 Jahren leider schon Erfahrungen mit Cybermobbing gemacht“, weiß er.
Zur Umsetzung des Schutzkonzepts gehöre, „dass wir zu Beginn jeder Freizeit Bewusstsein für den Umgang mit Social Media und für den Umgang untereinander schaffen“. Denn Übergriffe kämen nicht nur von außen, sondern passierten auch innerhalb der Gruppen. „Awareness“ ist für Kalczinsky das Stichwort: Als Teamer passt er auf, wenn Situationen für Einzelne unangenehm werden könnten. Er erinnert seine Kollegen an eine respektvolle Sprache, wenn jemandem der Ton „verrutscht“.
Alte Konfi-Spiele, die auf engen Körperkontakt hinauslaufen, sind aus dem Repertoire geflogen. Und bei allen anderen erinnert der junge Mann an die Strategie „Voice, Choice, Exit“: Jeder darf sich zu Wort melden, jeder kann entscheiden, ob er oder sie die Situation oder die Gruppe verlässt – und alle respektieren diese Entscheidung.
Das Thema voranzutreiben, ist der Job von Miriam von Rombs. Die 56-Jährige ist ehrenamtliche Präventionsbeauftragte der Thomasgemeinde und hat nicht vor, sich auf dem Schutzkonzept auszuruhen. „Es ist ein Grundbaustein, jetzt müssen wir es weiterentwickeln“, sagt die Hotelbetriebswirtin.
Deshalb ist am 21. Februar ein Abend für die Ehrenamtlichen geplant. Dort soll das Konzept vorgestellt und Feedback eingeholt werden. Aus dem ausführlichen Papier soll ein „kleines Manifest“ für die Jugendleiter destilliert werden. Für die Konfirmanden des Vorjahres, die gern als Begleitpersonen auf Freizeiten mitkommen, gibt es ein fünfteiliges Schulungsprogramm. Ein Modul heißt: Grenzen wahren. Und für Konfis und ihre Eltern will Miriam von Rombs ein Beschwerdemanagement etablieren. „Wir wollen allen Mut machen: Jede und jeder darf für seine Grenzen einstehen“, sagt sie.
„Es muss in Fleisch und Blut übergehen, dass man ‘Nein’ sagen darf“, unterstreicht auch Maike Freese-Spott, Vertrauensfrau im Kirchenvorstand der Thomaskirche. Eine wichtige Vorarbeit für das Schutzkonzept war für sie die Selbstverpflichtung auf bestimmte Gesprächsregeln, die der Kirchenvorstand sich im Coronajahr 2020 gegeben hatte. Christian Stalter zählt auf, worum es geht: keine Vorurteile oder Klischees kolportieren, Ich-Botschaften verwenden, konkrete Beispiele statt Allgemeinplätze, Kritik ohne große Emotion.
„Eine faire, rücksichtsvolle Sprache, die nicht verletzt, ist uns wichtig“, betont der Pfarrer – egal, ob im Seniorenkreis, im Kirchenvorstand oder bei Diskussionen nach einem Vortragsabend. Das heißt nicht, dass es in Grünwald keine Kritik, keinen Dissens mehr gibt. „Die Frage ist eher, wie man auseinandergeht“, sagt Freese-Spott. Im Leitbild der Gemeinde ist das so formuliert: als „grundlegendes Selbstverständnis, allen Menschen mit Respekt, Achtsamkeit und grenzwahrend zu begegnen“.
Die Mühe lohnt sich, findet Student Lukas Kalcinzsky: Wenn sich alle um faire und respektvolle Sprache bemühten, sei der Umgang miteinander „entspannter und sicherer“. Das strahle auch auf andere Lebensbereiche wie die Schule aus. Um die richtige Richtung geht es Pfarrer Christian Stalter: „Die Menschen vertrauen sich uns an. Wir haben die Pflicht, diesem Vertrauen gerecht zu werden.“ Das Schutzkonzept sei auf dem Weg dorthin eine große Hilfe. (00/0525/15.02.2024)