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Israelsonntag: „Musik ist die beste Rache“

Das Projekt „Lebensmelodien“ lässt die Musik jüdischer Komponisten, die während des Holocausts ermordet wurden, weiterleben. Ein Kommentar zum Israelsonntag. Ein Auftrag des Israelsonntags

Das Projekt Lebensmelodien bringt vergessene Kompositionen aus der Zeit der Shoa zurück auf die Bühne – Musik als Brücke zwischen Erinnerung, Gegenwart und Zukunft
Das Projekt Lebensmelodien bringt vergessene Kompositionen aus der Zeit der Shoa zurück auf die Bühne – Musik als Brücke zwischen Erinnerung, Gegenwart und Zukunftepd-bild / Christian Ditsch, Pool

Am Israelsonntag erinnern wir Christinnen und Christen seit den 50er Jahren an den bleibenden Bund Gottes mit Israel. Doch es geht um mehr als biblische ­Geschichte oder die Aufarbeitung der Shoa durch die ersten beiden Nachkriegsgenerationen. Es geht um die ­Gegenwart. Um das Mit- einander der dritten und vierten Generation. Für mich ist dieser Sonntag ein Prüfstein. Er zeigt, wie glaubwürdig unsere Solidarität mit Jüdinnen und Juden wirklich ist. Und er stellt eine Frage: Wie leben wir heute unsere theologische Verantwortung, ge­rade angesichts des wachsenden Antisemitismus?

Die Begegnung mit jüdischen Vertreterinnen und Vertretern der dritten und vierten Generation in Berlin hat mir eine neue Perspektive eröffnet. Es sind längst nicht mehr nur die vertrauten Antworten und eingeübten Dialogformen der Fachleute gefragt. So wichtig diese bleiben, ich schätze besonders jene Gespräche und Gottesdienste, die Raum schaffen für die Vielfalt jüdischer und christlicher Glaubens- und Lebenswelten in unserer Stadt.

Musik als Türöffner für das Schicksal

Eine solche neue Form der Erinnerungskultur habe ich im Projekt Lebensmelodien gefunden. Es ist ein Projekt der dritten und vierten Generation – es macht Kompositionen aus der Zeit der Shoa wieder hörbar. Gemeinsam mit dem israelischen Klarinettisten Nur Ben ­Shalom führen wir seit sieben ­Jahren diese Musik auf, erzählen von den Lebensgeschichten der Komponistinnen und Komponisten, und gehen vor allem in Schulen. ­Inzwischen arbeiten wir mit über 300 Schulen bundesweit zusammen.

Michael Raddatz, Direktor des Projekts Lebensmelodien
Michael Raddatz, Direktor des Projekts Lebensmelodienepd-bild / Christian Ditsch

Gerade in Berlin schaffen wir mit dieser Musik Gesprächsräume – oft zwischen Menschen, die sich sonst als Gegner gegenüberstehen. Musik öffnet emotionale Zugänge. Diese Lieder erzählen von Lebenswillen, von spiritueller Tiefe, von der lebenswichtigen Kraft kultureller Erinnerung. Die Zuhörenden sind bewegt, ihre Herzen öffnen sich – und sie erkennen: Da war ein Mensch wie ich, der durch Musik angesichts des Todes seine Würde bewahrte.

Bei unserem letzten Konzert am 9. November in der Apostel-Paulus-Kirche, vor Hunderten von Zuhörenden, spielte eine Schulklasse die Musik eines ermordeten Komponisten. Sie hatte einen Angehörigen eingeladen. Am Ende, mit Tränen in den Augen und einem Lächeln auf den Lippen, rief er uns zu: „Musik ist die beste Rache.“ Diesen Satz werden wir nicht vergessen. Er ist Vermächtnis und Auftrag zugleich. Die „Rache“ der Ermordeten, so deutete es der Sohn eines Überlebenden, sei es, die ­Musik weiterleben zu lassen, als Ausdruck von Menschlichkeit und Hoffnung.

Leise Gewöhnung an das Undenkbare

Doch auch der Gegenwartsbezug ist unübersehbar. Es ist eine Auf­forderung, gerade heute, mit Musik im Herzen, entschieden gegen ­Antisemitismus aufzustehen. Besonders in Berlin, dem Sitz unseres Projekts, sind die Herausforderungen akut: Tausende antisemitische Vorfälle jährlich, Angriffe auf ­jüdische Einrichtungen, Hetz­parolen auf Demonstrationen, all das gehört inzwischen zu einer schleichenden Gewöhnung an das Undenkbare.

Wir erleben es auch persönlich: Jüdische Musikerinnen und Musiker haben wieder Angst. Sie ent­fernen ihre Namen von Klingelschildern, sprechen Hebräisch nur noch flüsternd in der Öffentlichkeit. Lebensmelodien will hier ein Zeichen setzen, nicht moralisierend, sondern öffnend. Mit dieser Haltung sollte auch der Israelsonntag gestaltet werden: emotional, spirituell, politisch. Denn wo Worte versagen, kann ­Musik Brücken schlagen. Vielleicht haben Sie in den letzten Jahren ­eigene Wege gefunden, sich diesem Thema zu nähern. Ich freue mich über den Austausch.

Michael Raddatz ist Superintendent im Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg und Direktor des Projektes „Lebensmelodien“.

Weitere Informationen über das Projekt „Lebensmelodien“ und Kontakt unter: www.lebensmelodien.com