Dieser Tage gibt es in Jerewan eine Menge zu feiern: am 28. Mai den 100. Jahrestag der kurzlebigen ersten Republik Armenien. Jerewan, eine der ältesten Städte der Welt, ist offiziell 29 Jahre älter als Rom – die Festung wurde 782 vor Christus erstmals erwähnt – und würde demnach in diesem Jahr 2800 Jahre alt. Jerevan (Eriwan) wurde 1918 Hauptstadt, bereits die zwölfte in Armeniens Geschichte – „und hoffentlich die letzte“, wie sie hier sagen.
Zum 100. Republik-Geburtstag haben sich die Armenier selbst ein Geschenk gemacht. Die Galionsfigur des langjährigen Oligarchen-Regimes, Ministerpräsident Sersch Sargsjan, musste im April nach anhaltenden Straßenprotesten seinen Hut nehmen, durch eine „samtene Revolution“. Im zweiten Anlauf wurde soeben Oppositionsführer Nikol Paschinjan zum neuen Regierungschef gewählt. Doch was nun weiter folgen wird, ist noch ungewiss. Armeniens Geschichte ist voll von Rückschlägen.
Ein sehr armes Land mit sehr reichen Oligarchen
Armenien ist arm, sehr arm. Und einige wenige Oligarchen sind reich, sehr reich. Sie haben sich beizeiten Monopole aus der Sowjetzeit unter den Nagel gerissen. Zement oder Zucker bezahlen die Bentleys, Jaguars und SUVs, mit denen sie sich auf den mondänen Boulevards der Hauptstadt bewundern lassen. Ein zurückgetretener Regierungschef macht da noch keinen Sommer.
In der Hauptstadt kann man wohl am besten den tiefen Riss sehen, der durch die Gesellschaft geht: Auf der Hotelterrasse die Gastgeberin eines Kindergeburtstags, langhaarig, hübsch zurechtgemacht im schwarzen Leder-Mini; so etwa acht Jahre alt. Berge hellblauer und rosa Luftballons, dazwischen ein bulliger Türsteher im Maßanzug. Zwei kleine Jungs mit weißem Hemd und Fliege rennen durchs Bild, im Hintergrund mehrere Bespaßer in albernen bunten Ganzkörperkostümen. Vor dem Hoteleingang die protzigen Luxuslimousinen der Eltern. Eine obszöne Ghetto-Veranstaltung.
Die normale Bevölkerung bewahrt trotz der schwierigen politischen wie wirtschaftlichen Lage eine stolze Würde. Sie sind schwere Zeiten gewöhnt. Und nicht umsonst hat sich in der Sowjetzeit eine Gattung von Witzen entwickelt, die als „Fragen an Radio Eriwan“ Weltkarriere machte. Der fiktive Radiosender der Sowjetzeit beantwortete Zuhörerfragen auf ironische Weise und ließ die Regierenden dabei schlecht aussehen – eine kleine Rache für die Zumutungen des kommunistischen Alltags.
Eher untypisch dieser hier: Frage an Radio Eriwan: „Warum beantwortet Radio Eriwan jede Frage mit einer Gegenfrage?“ – Antwort: „Warum nicht?“ Eine klassischere Fassung erzählt Artur Manutscharyan. Der Deutsch- und Russischlehrer war nach der Wende Mitbegründer des deutschsprachigen Programms des heutigen Staatssenders in Jerewan. Frage an Radio Eriwan: „Kann man zugleich ein guter Kommunist und ein guter Christ sein?“ – Antwort: „Im Prinzip ja. Aber warum soll man sich das Leben doppelt schwer machen?“
Die Schlitzohrigkeit der Armenier erklärt Manutscharyan mit dem hohen Grad an Volksbildung – der wiederum auf die hohe Identifikation mit der eigenen Sprache zurückgehe. Als eine der Früchte weist er stolz auf den Schachpalast aus der Sowjetzeit hinüber: „Schach ist unser Volkssport. Schach erfordert analytisches Denken.“
Die erste armenische Republik von 1918 war quasi eine Totgeburt. Nach der Katastrophe des osmanischen Völkermordes an den Armeniern 1915-1917 standen die diplomatischen Zeichen zunächst günstig, und der in Sevres bei Paris geschlossene Vertrag sah 1920 tatsächlich einen unabhängigen armenischen, auch von der Türkei anerkannten Staat vor. Doch dazu kam es nicht.
„Armenisches Glück“ und „christliche Schutzmacht“
Die Rote Armee besetzte die Republik Armenien, die Sowjets übernahmen die Macht. 1923 revidierte der Vertrag von Lausanne die Beschlüsse von Sevres zugunsten der Türkei. Die neue Türkische Republik Atatürks verleibte sich große Teile des armenischen Stammlandes ein. Armenien, nun faktisch zwischen der Türkei und Sowjetrussland aufgeteilt, war wieder Verlierer der Geschichte.
Das heutige Staatsgebiet der 1991 ausgerufenen zweiten Republik macht nur noch einen kleineren Teil jenes historischen Kulturraums aus, den die Armenier geprägt haben. Ihr Kernland im Westen mit dem Vansee und dem „heiligen Berg“ Ararat, der in Sichtweite der Hauptstadt Eriwan liegt, heißt heute „Ostanatolien“ und gehört dem einstigen Peiniger Türkei.
Außenpolitische Nöte, die die christlichen Armenier zynisch das „armenische Glück“ nennen – nämlich solche Nachbarn zu haben: die miteinander verbündeten Feind-staaten Türkei und Aserbaidschan im Westen und Osten; den schiitischen Iran im Süden; das mit der Schutzmacht Russland verfeindete Georgien im Norden. Im Ergebnis sind fast alle Grenzen dicht, führt nur noch eine Bahnlinie aus Armenien hinaus; sie endet in Tiflis.
Armenien kann nichts exportieren, ist ganz auf Binnenwirtschaft angewiesen. Erst 2006 erreichte das Bruttosozialprodukt wieder die Höhe der Sowjetzeit. Wichtigster Wirtschaftspartner ist die EU, doch die wichtigste politische Größe: die „christliche Schutzmacht“ Russland. Der große Bruder hat stets genügend strategisches Erpressungspotenzial, um etwa ein Assoziationsabkommen mit der EU zu unterbinden. Ein Zerwürfnis mit Russland ist für Armenien schlicht nicht drin.
Immerhin: Beim Sturz der Regierung Sargsjan hielt der Kreml still. Bis jetzt. Mit Sorge blickt Artur Manutscharyan nach Ankara und Moskau und sagt unheilvoll: „Immer wenn sich in der Geschichte die Türkei und Russland zu gut verstanden, haben die Armenier einen teuren Preis bezahlt.“