Von Christian Stäblein
Das Kino guckt hin: auf Trends und Moden, gesellschaftliche Entwicklungen, alte und immer neue Fragen nach Sinn und Verstehen. Bei der Berlinale ist das nun seit 70 Jahren so. Früher im Sommer, seit vielen Jahren schon im Februar, dieses Jahr am 20. des Monats.
Weil der Winter bisweilen ein nur sehr mäßiges Vergnügen ist, ist die Lust, sich ins Dunkle zu verkrie-chen und den Projektionen auf der Leinwand zuzuschauen, dann noch ein wenig größer als sonst. Für
90 oder 120 Minuten in eine andere Welt eintauchen. Bei aller Medienentwicklung und Medienhype steckt darin etwas Urmenschliches, ja auch Urreligiöses: Wir sitzen in der Höhle und betrachten die Bilder an der Wand, tauchen in sie ab, leben – wenn der Film gut ist – ein anderes Leben mit. Verstehen dadurch vielleicht, was wir sonst nicht verstehen würden.
Wie es Petrunya in der männerdominerten Welt ergeht, zum Beispiel. Der nordmazedonische Film „Gott existiert, ihr Name ist Petrunya“ lief letztes Jahr auf der Berlinale. Es ist ein Film, der die subtilen und offenen Formen der Diskriminierung von Frauen thematisiert. Und der mit Petrunya eine Frau zeigt, die dieser Männerwelt trotzt, als sie ein Kreuz – das Kreuz – verteidigt. Der Film erhielt den Preis der Ökumenischen Jury. Ja, die Kirchen gucken auch hin bei der Berlinale. Das klingt jetzt etwas sehr simpel, aber es ist ziemlich genau so: Seit vier Jahrzehnten schaut eine Jury, die aus beiden Konfessionen zusammengesetzt ist, die Filme des Wettbewerbs mit an – und zwar unter der Frage, ob es den Filmen in besonderer Weise gelingt, „für spirituelle, menschliche oder soziale Werte zu sensibilisieren“, wie es in den Kriterien heißt. Was ebenso klug wie abstrakt klingt, führt in der Praxis immer wieder dazu, dass die ökumenische Jury Trends – gesellschaftliche und cineastische –aufspürt und erkennt, einfach gesagt: hinguckt, wo das Leben (im Film) so hinläuft.
Nachtrag: Wieder nur alles Berlin? Nein: Winterzeit ist Kinozeit, das beginnt festivaltechnisch stets im November mit dem Cottbuser Filmfestival für den osteuropäischen Film. In diesem Jahr feiert dieses Festival sein 30 jähriges Jubiläum. Und – fastversteht es sich von selbst – wirft diesmal seinen cineastischen Blick auf die Veränderungsprozesse 30 Jahre nach Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung. Da möchte man die Kinohöhle gar nicht verlassen, oder?
Übrigens sind auch Kirchen bisweilen Höhlen, in denen man sich gut verkriechen kann. In der Sommerzeit sind es sogar angenehme Kältehöhlen. Auch hier versteht man, was man sonst vielleicht nicht verstehen würde. Denn auch hier laufen die Filme des Lebens, wenn auch anders. Gerne vorbeigucken.