Unter den Zehnjährigen in Deutschland hat jedes zweite Kind eine Einwanderungsgeschichte. Doch die Politik bilde diese Vielfalt nicht ab, kritisiert die Migrationsbeauftragte Alabali-Radovan. Das möchte sie ändern.
Der World Chess Club brummt. Aus ganz Deutschland sind junge Menschen angereist. Die 18- bis 30-Jährigen haben schwarzes, braunes, blondes Haar; dunklere und hellere Haut; einige sind schick in Anzug und Krawatte gekleidet, andere lässig in Jeans und T-Shirt, mit und ohne Kopftuch. Auf ihren Namensschildchen steht weder Müller, Schmidt noch Schulze. Nicht um Schach geht es an dem schicken Ort in Berlin-Mitte an diesem Donnerstag, sondern um Vielfalt in der deutschen Politik.
Rund 100 junge Menschen sind es, die an der Veranstaltung “#MischDichEin” teilnehmen. Einige sind erst seit ein paar Jahren in Deutschland, bei anderen sind die Eltern oder Großeltern eingewandert. Die meisten von ihnen sind in ihren Heimatorten bereits in Parteien oder zivilgesellschaftlichen Initiativen engagiert. Sie sind hier, um ihre Ideen und Visionen für politische Teilhabe zu formulieren, zu diskutieren und daraus Forderungen an die deutsche Politik zu erarbeiten.
Eingeladen hat die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD). Die 33-Jährige ist ein geeignetes Vorbild: Selbst in Moskau als Kind irakischer Eltern geboren, hat sie sich schon in jungen Jahren in der Politik hochgearbeitet. Ihre Eltern hatten Widerstand gegen Saddam Hussein geleistet und in den 1990er Jahren Asyl in Mecklenburg-Vorpommern erhalten.
Unter den Zehnjährigen habe bereits jedes zweite Kind eine Einwanderungsgeschichte, aber die Politik bilde diese Vielfalt nicht ab, hatte Alabali-Radovan im Vorfeld der Veranstaltung kritisiert. So hätten nur 11,3 Prozent der Bundestagsabgeordneten eine Einwanderungsgeschichte – gegenüber einem Bevölkerungsanteil von fast einem Drittel. Mit Formaten wie “#MischDichein” oder dem von ihr geförderten Programm “YoungUp!” will sie das ändern.
Was erhoffen sich die Jugendlichen? Salwa aus Hannover: “Solche Veranstaltungen bestärken mich sehr.” Sie könne neue Ideen sammeln und dann mit in ihren Verein zu Hause bringen. Eine Teilnehmerin neben ihr ergänzt: “Es tut gut, sich gesehen zu fühlen von der Politik, gerade auf so einer hohen Ebene wie dem Bundeskanzleramt.”
Das Tagesprogramm ist straff. Am Vormittag haben die Teilnehmenden in fünf Workshops anderthalb Stunden Zeit für das Erarbeiten ihrer Forderungen. Aus Frankfurt am Main ist Okan Karasu angereist. Mehrere Jahre war er in der SPD und der Linken aktiv. Er interessiert sich für Gewerkschaften und will etwas an prekären Arbeitsbedingungen migrantischer Menschen verändern.
In einem Workshop sammeln die etwa 30 Teilnehmenden Bereiche, in denen sie sich politische Veränderung wünschen: in der Gesetzgebung, den Parteien, der Zivilgesellschaft und ihrer eigenen persönlichen Entwicklung. Die Hamburgerin Sarina Badafras hat in der Verwaltung gearbeitet. Sie plädiert für ein verpflichtendes Monitoring in deutschen Behörden, das Zahlen erhebt, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund im jeweiligen Amt arbeiten. Der 26 Jahre alte Syrer und Student Karam Safeyeh wünscht sich verpflichtende Schulungen in Ämtern, die Sachbearbeiter sensibilisieren für einen respektvollen Umgang mit Flüchtlingen.
Nach einer Mittagspause soll es in Bussen weiter ins Bundeskanzleramt gehen. Dort richtet Alabali-Radovan ihr Wort an das junge Publikum. Schon nach den Anschlägen von Halle und Hanau habe sich bei vielen ein Gefühl der Ausgrenzung breit gemacht. “Und jetzt die Enthüllungen über rechtsextreme Netzwerke, die immer lauter über Ausbürgerung und Vertreibung nachdenken.”
Umso wichtiger sei es, dass die Stimmen der engagierten jungen Menschen laut zu hören seien. Großen Applaus bekommt die junge Staatsministerin, als es um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts geht, den Doppelpass. “Denn wer hier lebt und sich einbringt, soll auch Deutscher sein. Mit allen Rechten und Pflichten. Mit Wählen und Gewähltwerden.”
Im Anschluss stellen repräsentativ für ihre jeweiligen Workshops Teilnehmende die erarbeiteten Positionen vor. Auf einem Podium nehmen Alabali-Radovan und Bundestagsabgeordnete der Ampel die Forderungen entgegen. Sie versprechen, sie mit in ihre Parteien und in die Ausschüsse zu nehmen.