Weniger Bürokratie zu Lasten von Menschenrechten? Das EU-Parlament hat ein schwächeres Lieferkettengesetz beschlossen. Das schade Menschen und Umwelt, mahnen Kritiker.
Mehrere Organisationen kritisieren die beschlossene Abschwächung des EU-Lieferkettengesetzes. Aus der Wirtschaft kommt Lob für wegfallende Berichtspflichten. Deutliche Kritik äußert Amnesty International. Mit den beschlossenen Änderungen lasse die EU Menschen und den Planeten in einer Zeit im Stich, in der Schutzmaßnahmen am dringendsten benötigt würden, erklärte die Direktorin des Amnesty-Büros für europäische Institutionen, Eve Geddie, am Dienstag. Damit sende sie “ein beunruhigendes Signal, dass Unternehmensinteressen über Menschenrechte gestellt werden”.
Der frühere Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) mahnte: “Das Prinzip, die Produktionsstandorte in asiatische oder afrikanische Länder zu verlegen, dort Kinderarbeit und Stundenlöhne von 50 Cent zu akzeptieren und ohne jegliche Abwasserklärung oder Umweltstandards zu produzieren, kann nicht das deutsche und europäische Markenmodell sein.” Gerade die deutsche Wirtschaft dürfe ihre sicheren Produktionsstandards nicht aufgeben, sagte Müller der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Die Initiative Lieferkettengesetz bemängelte, das Gesetz werde entkernt, bevor es überhaupt in einem einzigen EU-Mitgliedsland umgesetzt werden konnte. Die Sorgfaltspflichten des 2024 beschlossenen Gesetzes gelten ab Juli 2029. Die Oxfam-Expertin für Wirtschaft und Menschenrechte, Franziska Humbert, kritisierte: “Gemeinsam mit den Stimmen von Rechtsextremen wurde die viel beschworene Kettensäge an den Schutz von Umwelt und Menschenrechten angelegt.”
“Von dem wegweisenden Gesetz der EU zu Unternehmensverantwortung ist nur noch ein Gerippe übrig”, sagte Helene de Rengervé von Human Rights Watch. Unternehmensinteressen hätten sich gegen die Rechte von Arbeitnehmern und Umweltschutz durchgesetzt. Das, was von dem Gesetz übriggeblieben sei, müssten Betroffene nutzen, um für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Das EU-Parlament billigte in Straßburg Änderungen, nach denen nur sehr große Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitenden bestimmte Sorgfaltspflichten erfüllen müssen. Ab mehr als 1.000 Beschäftigten und mit mehr als 450 Millionen Euro Jahresnettoumsatz müssen Unternehmen Berichte über soziale und ökologische Nachhaltigkeit vorlegen.
Ziel der Lieferkettengesetzgebung ist es, Menschenrechte weltweit zu stärken und die Firmen in die Verantwortung zu nehmen, etwa für faire Löhne und den Schutz der Umwelt. Unternehmen argumentierten, es bedeute für sie eine hohe bürokratische Belastung, Regelverstöße entlang der teils komplexen Lieferketten zu prüfen und Berichte zu verfassen. Die aktualisierten Nachhaltigkeitsregeln sind Teil eines Vereinfachungspakets, um Bürokratie abzubauen und die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken.
Der Verband der Chemischen Industrie begrüßte die Entscheidung aus Brüssel. “Endlich zieht Europa die Notbremse bei der Überregulierung”, erklärte Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup. Nun müssten die Anpassungen schnell in nationales Recht überführt werden, um deutsche Unternehmen zu entlasten.
Der Bundestag verabschiedete bereits 2021 ein deutsches Lieferkettengesetz. Es greift seit 2023 für Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten, seit Januar 2024 für Unternehmen mit mindestens 1.000 Beschäftigten. Die aktuelle Bundesregierung einigte sich im Koalitionsvertrag darauf, das deutsche Gesetz durch die EU-Regelung zu ersetzen. Bis diese in Kraft treten, will sie Unternehmen entlasten, etwa durch weniger Berichtspflichten und Sanktionen.
Auf die Debatte um Firmenverantwortung wirkte der Einsturz einer Textilfabrik 2013 in Bangladesch ein. Damals starben in Rana Plaza mehr als 1.100 Frauen, weil zu wenig Rücksicht auf Arbeitssicherheit gelegt wurde. In Rana Plaza und ähnlichen Fabriken in Bangladesch werden T-Shirts, Hosen und Hemden für den deutschen und europäischen Markt genäht.