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Medizin am Limit

Ärzte machen das langsame Sterben erträglicher, stoßen aber auch an Grenzen. Matthias Thöns vom Palliativnetz Witten befürwortet ärztliche Sterbehilfe unter Auflagen

Joern Neumann

Die 86-Jährige befindet sich im letzten Stadium einer Krebserkrankung. Sie ist stark abgemagert, kann nichts mehr zu sich nehmen und leidet an einer „wahnsinnigen Übelkeit“, wie ihre Nichte sagt. Sie lässt sie ins Palliativzentrum der Uniklinik Köln verlegen, einer Einrichtung, die todkranke Menschen beim Sterben begleitet.

„Dort war es eigentlich ganz toll“, sagt die Nichte, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will: „Das Personal war unglaublich nett und hilfsbereit, die Zimmer hell und freundlich.“ Ihre Tante habe etwas gegen die Übelkeit bekommen und etwas Morphin. „Danach ging es ihr besser. Sie ist wieder etwas aufgelebt.“ Zwei Wochen hat sie dort noch gelebt. Mitte Januar starb sie.

Es fehlt noch immer an Palliativstationen

Das Kölner Palliativzentrum wird von Raymond Voltz geleitet, der im Jahr 2004 an der Uniklinik auch einen der ersten Lehrstühle für Palliativmedizin in Deutschland übernahm. Seitdem habe sich viel getan, sagt er. Die Grundtendenz sei gut: „Aber es gibt immer noch zu wenig Palliativstationen.“ Nur 15 Prozent der bundesweit rund 2000 Krankenhäuser verfügten über eine Palliativstation.
Die aktuelle Debatte über Sterbehilfe und den ärztlich assistierten Suizid begrüßt Voltz, „weil dadurch auch die Rolle der Palliativmedizin in den Fokus gerückt wird“. In dieser Debatte geht es unter anderem darum, ob es Ärzten erlaubt sein sollte, einem todkranken und leidenden Patienten dabei zu helfen, sich selbst mit Hilfe von Medikamenten das Leben zu nehmen. Dies sei eigentlich nur für einen verschwindend kleinen Prozentsatz der Betroffenen von Bedeutung, sagt Voltz dazu: „99 Prozent benötigen eine flächendeckende und gute Palliativversorgung. Wir brauchen mehr Palliativmedizin statt Sterbehilfe.“ Beim Sterben zu helfen, sei keine ärztliche Aufgabe, so Voltz.
Auch der Anästhesist und Schmerztherapeut Matthias Thöns vom Palliativnetz Witten sagt, dass man die allermeisten Patienten mit einer palliativen Therapie gut versorgen könne. Durch die Behandlung körperlicher Leiden trete bei den meisten Patienten auch der Wunsch zu sterben in den Hintergrund. „Und Studien haben eindeutig gezeigt, dass die Palliativmedizin Patienten nicht nur besser, sondern auch länger leben lässt.“
Dennoch gebe es einen sehr kleinen Promillesatz, bei dem die Medizin an ihre Grenzen stoße, sagt der Palliativmediziner Thöns, der etwa 400 Patienten im Jahr behandelt. Alle ein bis zwei Jahre treffe er auf einen Patienten, dem auch sein Team nicht ausreichend helfen können. Deswegen sollte es Ärzten seiner Ansicht nach erlaubt sein, sterbenskranken Menschen beim Suizid zu helfen, wenn bestimmte strenge Voraussetzungen erfüllt sind.

Jeden Tag um eine „Zauberpille“ gebeten

Dazu gehört seines Erachtens, dass die Patienten an ihrem Lebensende stehen, nicht psychisch krank sind und sehr leiden. „In Deutschland haben wir die seltsame Situation, dass Familienmitglieder oder Freunde beim assistierten Suizid keine Konsequenzen zu fürchten haben, Ärzte dagegen schon.“ Zehn der 17 Landesärztekammern verbieten es ihren Mitgliedern, beim Suizid zu assistieren. Wer es dennoch tut, kann seine Zulassung verlieren.
Sterben zu müssen, sei wahrscheinlich nie leicht, sagt die Kölner Nichte der verstorbenen Krebspatientin: „Meine Tante fand das langsame Sterben furchtbar. Und obwohl es ihr auf der Palliativstation so viel besser ging, hat sie mich trotzdem jeden Tag um eine ,Zauberpille‘ gebeten.“ Eine Pille, die ihr Leben beenden sollte.