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„Man muss etwas vom Leben verstehen“

Seit 60 Jahren haben die Ehrenamtlichen der Telefonseelsorge rund um die Uhr ein offenes Ohr: für alle, die Kummer haben, verzweifelt sind oder einfach dringend jemanden zum Zuhören brauchen

© epd-bild / Meike Böschemeyer

Wenn das Telefon klingelt und er den Hörer abnimmt, dann legen die Anrufer gleich los. „Sie stellen sich nie vor“, sagt Jochem H., der ehrenamtlich für die Telefonseelsorge in Köln arbeitet. „Ich lasse sie dann erst mal reden, bis ich schließlich gezielt nachfrage: ‚Was hat Sie denn nun zum Hörer greifen lassen?‘“

Die Nachfrage ist groß. Kaum hat der 64-Jährige ein Gespräch beendet, da ist bereits das nächste in der Leitung. „Und es gibt viele, die gar nicht durchkommen“, sagt der Rentner. Er und seine Kölner Teamkollegen führen schätzungsweise 20 000 Gespräche im Jahr.

Unabhängiger und gemeinnütziger Verein

Vor 60 Jahren entstand die erste Anlaufstelle in Deutschland, auf Initiative des Arztes und Theologen Klaus Thomas: Am 6. Oktober 1956 wurde die Telefonseelsorge Berlin als unabhängiger und gemeinnütziger Verein gegründet.
Mittlerweile gibt es 105 örtliche Stellen der Telefonseelsorge und rund 7500 ehrenamtliche Mitarbeiter. „Ängste, seelische und körperliche Einschränkungen und Beziehungsfragen sind die häufigsten Themen der Gespräche“, sagt Ruth Belzner, die Vorsitzende der evangelischen Konferenz für Telefonseelsorge. Einige Anrufer sind akut suizidgefährdet. „Für Menschen in Krisensituationen verliert das Leben seine Orientierungskraft und Bedeutsamkeit“, so beschreibt es Pfarrer Frank Ertel, der die ökumenische Telefonseelsorge in Aachen leitet.
Solche Anrufe seien für ihn die schwierigsten, sagt auch Telefonseelsorger Jochem H., der jeden Monat drei Schichten übernimmt, eine davon nachts. „Da muss man dann sehr präsent sein und gleichzeitig aufpassen, dass man nicht zu viel auf sich selbst projiziert.“
Die erste organisierte Telefonseelsorge entstand 1953 in einem anglikanischen Pfarrhaus in London: Der junge Pfarrer Chad Varah hatte gerade eine 14-Jährige beerdigt, die Suizid begangen hatte, weil sie ihre einsetzende Periode für eine Geschlechtskrankheit gehalten hatte. Später sagte Varah dazu: „Kleines Mädchen, ich kannte dich nicht, aber du hast mein Leben für immer verändert.“ Er begann, Annoncen mit der Telefonnummer seiner Kirche in Londoner Zeitungen aufzugeben: „Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie mich an.“
Schon bald konnte Varah den Ansturm von Anrufern nicht mehr allein bewältigen, so dass er freiwillige Helfer dazuholte. Seine Organisation „The Samaritans“ hat heute mehr als 200 Niederlassungen in Großbritannien und Irland mit rund 20 000 Ehrenamtlichen.
Die Telefonseelsorge Deutschland ist Mitglied im europäischen Dachverband, der sich „International Federation of Telephone Emergency Services“, kurz: IFOTES, nennt und 1967 gegründet wurde.
„Mehr als 420 Telefonseelsorge-Stellen mit rund 25 000 Freiwilligen sind innerhalb von IFOTES engagiert“, sagt Präsident Stefan Schumacher. Zusammen nehmen sie fast fünf Millionen Anrufe im Jahr entgegen. Im Abstand von drei Jahren werden internationale Kongresse veranstaltet. Der diesjährige fand in diesen Tagen in Aachen statt.
In Deutschland wird die überwiegende Mehrheit der Einrichtungen von den beiden großen Kirchen geführt und finanziert. „Dabei arbeiten wir heute mit völlig anderen Voraussetzungen als früher“, sagt Michael Hillenkamp, der Sprecher der katholischen Konferenz für Telefonseelsorge. Beratungen gibt es mittlerweile auch per E-Mail und im Online-Chat.

Jeder Mitarbeiter muss Ausbildung durchlaufen

Bevor Ehrenamtliche ihre Arbeit am Telefon aufnehmen, absolvieren sie eine einjährige Ausbildung. In etwa 150 Unterrichtsstunden werden sie in Bereichen wie Selbsterfahrung, Gesprächsführung und Zuhörstrategien geschult. „Etwa 80 Prozent von ihnen sind Frauen“, sagt Hillenkamp. „Viele haben selbst irgendwann eine Krise überwunden. Das ist für ihre Arbeit eine sehr nützliche Erfahrung – sie verstehen etwas vom Leben.“
Auch Jochem H. hat diese Ausbildung durchlaufen. „Während der praktischen Phase haben wir uns zunächst neben einen erfahrenen Kollegen gesetzt und zugehört, wie er das macht“, erzählt er. „Dann haben wir die Gespräche geführt, und der Kollege saß dabei und hat uns anschließend Feedback gegeben.“
Jochem H. war vor seiner Pensionierung als Personalchef in einem Unternehmen tätig und hatte bereits viel Erfahrung als Gesprächscoach. „Nun mache ich das natürlich in einem ganz anderen Kontext, und das finde ich persönlich sehr bereichernd.“ Mit der Telefonseelsorge habe er etwas gefunden, „was mir Sinn gibt und den Anrufern auch“.