Ein Anschlag, der international für Entsetzen sorgt. Am Tag, nachdem ein Mann mit dem Auto in den Magdeburger Weihnachtsmarkt fuhr, fünf Menschen tötete und über 200 verletzte, ist die Stadt geschockt. Ein Ortsbesuch.
Vor der Johanniskirche in Magdeburg legen an diesem kalten Samstagmorgen immer mehr Menschen Blumen und Kuscheltiere nieder, zünden Kerzen an, verharren stumm, weinen. Auf ein Pappschild mittendrin hat jemand geschrieben: “Wir lassen uns nicht einschüchtern.”
Nur drei Minuten zu Fuß von hier raste am Vorabend ein 50-jähriger saudischer Arzt, der seit 2006 in Deutschland lebt und arbeitet, mit dem Auto in den Weihnachtsmarkt. Mindestens fünf Menschen starben, darunter ein Kleinkind. Mehr als 200 wurden verletzt, rund 40 davon schwerst. Am Tag danach trauert Magdeburg. Auch international löst die Tat Entsetzen aus, Journalisten aus ganz Europa sind angereist.
“Es ist fürchterlich, man kann das gar nicht begreifen. Diese Tat wird immer bleiben”, sagt eine 84-jährige gebürtige Magdeburgerin und beobachtet, wie der schwarze Autocorso mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) am Alten Markt ankommt, wo die leeren Weihnachtsmarktbuden stehen. Am Straßenrand und auf dem Markt liegen noch überall Überreste des Notfalleinsatzes: blaue Einweghandschuhe, Rettungsdecken, Infusionsschläuche, Kanülen.
Notfallseelsorgerin Corinna Pagels war am Tatabend direkt vor Ort im Einsatz. Jetzt steht sie vor der Johanniskirche und betreut die Trauernden, die an den Gedenkort kommen, auch beim Gedenkgottesdienst am Abend im Magdeburger Dom ist sie im Einsatz. “Zuhören, in den Arm nehmen, trösten”, beschreibt sie ihr Tun in dieser Situtation.
Seit dem Abend sind alle verfügbaren Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams aus ganz Sachsen-Anhalt in Magdeburg im Einsatz: “Wir sind jetzt in den Kliniken, auf den Kinderstationen und hier am Ort des Geschehen – bei vielen Menschen kommt der Schock jetzt erst richtig an. Viele sind traumatisiert.”
Auch Pagels nimmt ein Bild von der Tatnacht mit, dass sie nicht mehr los lässt: “Da lag eine tote Frau. Und ihr trauernder Ehemann lag über ihr und wollte einfach nicht mehr aufstehen und seine Frau loslassen.” Ihre Kollegin berichtet von einem verletzten Kind, das laut vor Schmerzen und Angst schreiend neben seiner verletzten Mutter lag.
Nur vier Tage vor Heiligabend passierte das alles. “Ich glaube nicht, dass wir dieses Jahr einen Baum aufstellen. Das Weihnachtsfest hat jetzt eine andere Bedeutung bekommen”, glaubt Pagels.
Kanzler Scholz zeigt sich sehr berührt nach Gesprächen mit Einsatzkräften und Ersthelfern. Er dankt ihnen. Mit ihrer Professionalität hätten sie Schlimmeres verhindert: “Wir wissen aber auch, dass das etwas ist, das auch diejenigen, die hier geholfen haben, früher oder später umtreiben wird, und sie werden damit zu kämpfen haben.” Er sicherte Unstützung für alle zu, die Opfer dieser “furchtbaren, wahnsinnigen Tat” geworden sind.
Und er verspricht maximale Aufklärung: Gegen den oder die Täter werde mit aller Härte des Gesetzes vorgegangen. Zugleich ruft er zu Zusammenhalt gegen Hass und Gewalt auf. Es sei wichtig, “dass wir zusammenhalten und uns unterhaken, dass nicht Hass unser Miteinander bestimmt”, so Scholz. “Und dass wir diejenigen nicht durchkommen lassen, die Hass säen wollen.”
Fast grotesk mutet es an, als um 12 Uhr – unmittelbar bevor Scholz an die Mikrofone tritt – das Rathaus-Glockenspiel “Fröhliche Weihnacht’ überall” spielt. Ansonsten hat die Stadt fast alles heruntergefahren. An diesem Wochenende bleiben die Kultureinrichtungen geschlossen. Stattdessen sind der evangelische Dom und die katholische Kathedrale geöffnet und bieten Orte für Trauer und Gedenken.
Im Dom zünden immer mehr Menschen kleine Teelichte mit der Aufschrift “O Herr, mach mich zum Werkzeug deines Friedens” an und verharren im stillen Gebet. “Wir können noch gar nicht darüber sprechen”, sagt ein Paar: “Aber es ist ein tröstliches Ritual, jetzt hier eine Kerze aufstellen zu können.”
Parallel richtet das Dompersonal schon alles für den ökumenischen Gedenkgottesdienst her, der um 19 Uhr beginnt. Unter anderem mit Landesbischof Friedrich Kramer und seinem katholischen Amtsbruder Gerhard Feige. Beide hatten die Tat bereits aufs schärfste verurteilt, den Opfern und Angehörigen ihre Anteilnahme zugesagt und den Einsatzkräften gedankt.
Jetzt müssen sie wieder um Worte ringen. Und zugleich auch Stille zulassen für die individuelle Trauer. Stille, wie sie auch bundesweit auf allen Weihnachtsmärkten herrschen soll – in einer Gedenkminute um 19 Uhr, wie es der Deutsche Schaustellerverband angekündigt hat. Und um 19.04 Uhr sollen dann in Magdeburg alle Glocken läuten – exakt 24 Stunden nach der unfassbaren Tat.