Auch die Bahn kennt keine Gnade mit der Kirche. Wegen des angekündigten bundesweiten Streiks der Lokführer sah sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) genötigt, ihre Synodentagung in Ulm vorzeitig zu beenden. Wie heftig der Gegenwind ist, der der Kirche aus der Gesellschaft allerdings insgesamt entgegenschlägt, hatten die 128 Mitglieder des Kirchenparlaments bis dahin aber schon deutlich vor Augen geführt bekommen: Die Ergebnisse der lang angekündigten und mit Spannung erwarteten Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung (KMU) waren dazu angetan, die ohnehin schon trübe Novemberstimmung noch weiter zu drücken.
Die KMU in Kurzform: Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt weiter, und selbst bei ihren Mitgliedern gehen Kirchenbindung und kirchliche Praxis immer weiter zurück. Bald schon, nämlich ab 2030, werden Kirchenmitglieder hierzulande in der Minderheit sein.
Religiosität geht zurück: Wo nichts ist, kann man nicht andocken
Diese Zahlen kommen nicht wirklich überraschend, neu ist aber die Erkenntnis: Auch die Religiosität insgesamt geht in der Bevölkerung stark zurück. Hier muss die Kirche umdenken. Denn bisher klammerte sie sich oft an die Hoffnung: Religiös sind ja irgendwie fast alle Menschen. Wenn dies auch noch so nebulös ausfallen mag – Esoterik, Engel, höhere Mächte, Regenbogenbrücke, hinterm-Horizont-geht’s weiter –, könne die Kirche hier doch vielleicht irgendwie andocken, wenn sie es denn nur geschickt genug anstellt. Diesen Zahn hat die KMU der Kirche nun gezogen. Wo nichts ist, kann man nicht andocken.
Allerdings muss der Ehrlichkeit halber erwähnt werden, dass genau dieser Punkt hochumstritten ist. Geht die Religiosität tatsächlich zurück? Möglicherweise ja auch nicht. Das liege daran, welche Fragen man den Menschen bei so einer Untersuchung stellt, meinen drei Fachleute, nämlich Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik in München, Kristin Merle, Professorin für Praktische Theologie in Hamburg und Uta Pohl-Patalong, Professorin für Praktische Theologie in Kiel. Sie gehören dem Wissenschaftlichen Beirat der KMU an.
Was also tun? Auch wenn die EKD-Synode nun vorbei ist – diese schmerzliche Frage wird Kirchenleitungen und die Mitglieder des Kirchenparlaments in den nächsten Monaten emsig weiter beschäftigen. Dann zwar nicht mehr bei einer großen Generalversammlung wie jetzt in Ulm, sondern in vielen kleinen Treffen, Telefonaten und Videokonferenzen.
Akzeptanz der sozialen Arbeit von Kirche macht Hoffnung
Bei aller grauen Novemberstimmung gibt es aber auch einen Lichtblick. Denn trotz sinkender Mitgliedszahlen, vieler Kritik an ihr, drängender Reformwünsche und insgesamt abnehmender Religiosität stehen die Kirchen in einem Punkt noch immer relativ gut da – und zwar sowohl die evangelische als auch die katholische, wenn auch die evangelische etwas besser: nämlich in der Akzeptanz ihrer sozialen und politischen Arbeit.
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Und dieses Ergebnis der KMU dürfte nun doch viele überraschen. Denn anders als oft angenommen erwarten die Menschen von der Kirche also offenbar, dass sie sich zu Wort meldet. Und zwar nicht nur in Glaubensdingen im engeren Sinn, sondern gerade auch in gesellschaftlichen und politischen Fragen. Die oft, sowohl aus säkularen als auch sehr frommen Kreisen zu hörende Formel, Kirche schrumpfe, weil sie zu politisch sei, scheint also nun gerade nicht zu stimmen.