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Liberaler und verkannter Protestant

Der Historiker Kristian Buchna korrigiert das Bild vom ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss

Was im modernen Baden-Württemberg der Streit um den Bildungsplan ist, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kontroverse um die Schulpolitik. Insbesondere die katholische Kirche drängte sowohl während der Weimarer Zeit als auch bei der Formulierung des Grundgesetzes auf das „Elternrecht“, womit selbst in Dörfern die Einrichtung kleinster konfessioneller Bekenntnisschulen hätte erzwungen werden können. Der Liberale und spätere Bundespräsident Theodor Heuss (1884-1963) bekämpfte dieses „Elternrecht“. Der Historiker Kristian Buchna weist in einer neuen Studie nach, dass Heuss deshalb zu Unrecht als antikirchlicher Politiker in die Geschichte eingegangen ist.
Dabei hatte der in Brackenheim bei Heilbronn geborene Heuss Zeit seines Lebens engste Verbindungen zu evangelischen Geistlichen und Bischöfen. Im Amtszimmer des Bundespräsidenten lagen mehrere Bibeln, Heuss besuchte regelmäßig Gottesdienste und erinnerte Gesprächspartner nicht selten an ein Bibelwort, das für diesen Tag im Herrnhuter Losungsbuch stand. Mit seiner Kenntnis aus Bibel und Schriften des Reformators Martin Luther war er ein geachteter und manchmal auch gefürchteter Teilnehmer an den politischen Debatten.
Kristian Buchna, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stuttgarter Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, hält es für falsch, den liberalen Politiker in die antichristliche und antikirchliche Schublade zu stecken. Heuss habe sich nie gegen die Verkündigung und den gesellschaftlichen Dienst der Kirchen gestellt. Nach den Schrecken des Nationalsozialismus habe er sogar die Verwandtschaft von Liberalismus und Christentum betont. So schlussfolgerte Heuss 1945 in Stuttgart bei der Gründung der liberalen Demokratischen Volkspartei (DVP) aus den Erfahrungen des Dritten Reichs: „Wir lösten die Bindung von Gott und glaubten frei zu sein. Wir warfen die bürgerliche Freiheit weg und wurden zu Sklaven.“
Dennoch waren die katholische und teilweise auch die evangelische Kirche zeitweise nicht gut auf ihn zu sprechen. Gleich zwei Mal wurde er wegen seiner Positionierung gegen das „Elternrecht“ bei den Schulen zur Zielscheibe klerikaler Angriffe: in den 1920er Jahren, als es um ein Reichsschulgesetz ging, und 1948/49, als Heuss im Parlamentarischen Rat an der Ausarbeitung des Grundgesetzes beteiligt war. Konrad Adenauer, Präsident des Rates und späterer Bundeskanzler, wies darauf hin, dass es „Herrn Heuss sehr unangenehm ist, wenn er sich hier unbedingt in Gegensatz zur ganzen christlichen Welt stellen muss. Und das muss ihm bewusst werden“.
Tatsächlich ging dieser Kampf zugunsten von Heuss aus. Er wandte sich gegen einen Konfessionalismus und vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass fast alles an der Schule zu Unterrichtende ohnehin „durchaus weltlich“ sei. Deshalb favorisierte er die christliche Gemeinschaftsschule, die sich schließlich auch durchsetzte.
Der Historiker Buchna hat in seiner Studie tief gegraben, um die protestantischen Wurzeln des liberalen Politikers freizulegen. Von Heuss‘ überdurchschnittlichem Interesse am evangelischen Religionsunterricht in Kindertagen über die Frömmigkeit seiner Frau, Elly Heuss-Knapp, bis zu seinen Auftritten bei Deutschen Evangelischen Kirchentagen und in der Evangelischen Akademie Bad Boll, wo der Liberale durchaus auch theologisch Kante zeigte – Heuss ist ohne seine evangelische Prägung nicht zu verstehen. Buchnas Resümee: „Wer von Heuss, dem Liberalen, spricht, kann von Heuss, dem Protestanten, nicht schweigen.“

Kristian Buchna: Im Schatten des Antiklerikalismus. Theodor Heuss, der Liberalismus und die Kirchen. Verlag Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, 127 Seiten, sechs Euro.