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“Letzte Runde” – Doku über den schweren Weg aus der Alkoholsucht

Viele Deutsche und Russen konsumieren regelmäßig zu viel Alkohol – und versuchen, vom Trinken loszukommen. Eine einfühlsame Doku begleitet diesen Prozess von vier Protagonisten.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Statistisch gesehen trinkt jeder Deutsche im Jahr rund zehn Liter reinen Alkohol; in Russland sieht es nicht viel anders aus. Die Regisseurin Elizaveta Snagovskaia begleitet vier Menschen aus beiden Ländern, die zu viel trinken, sich darüber auch im Klaren sind und sich zum Ziel gesetzt haben, wenigstens eine Zeitlang auf den Alkohol zu verzichten. Die Deutschen Lisa und Thomas sowie die Russen Jenya und Boris entstammen dabei unterschiedlichen Schichten und leben unter Umständen, die wenig miteinander gemein haben, so dass sich ein informativer Querschnitt ergibt.

Zudem kommt der Dokumentarfilm von 2022 allen vier Hauptfiguren sehr nahe. Er zeigt ihre Fort- und auch Rückschritte, ohne jenseits der Selbstaussagen und kurzer Gespräche ihr Verhalten zu kommentieren. Dabei problematisiert die Regisseurin unaufdringlich auch ihren eigenen Alkoholkonsum. Besonders eindrücklich vermittelt sich die manchmal unterstützende, oft aber auch destruktive Rolle von Freunden, die mit dem Kleinreden des Wunsches nach Abstinenz die eigene Sucht zu überspielen scheinen.

Das Bier mit den Kollegen nach der Arbeit, die Tequila-Shots beim Ausgehen am Wochenende, die noble Weinbegleitung zum Abendessen: der Genuss von berauschenden Getränken gehört zum Leben vieler Menschen dazu. Auf jährlich 13,4 Liter reinen Alkohol kommen Berechnungen für Deutschland. In Russland sind es etwas weniger laut jenen Zahlen, welche die Weltgesundheitsorganisation WHO dazu veröffentlicht.

Elizaveta Snagovskaia hat für ihre Dokumentation “Letzte Runde” vier Menschen begleitet, die abstinent leben möchten oder sich wenigstens zum Ziel gesetzt haben, eine Zeit lang aufs Trinken zu verzichten.

Lisa aus München geht es nach eigenen Worten darum, ihr Leben neu in den Griff zu bekommen, sich “ohne Alkohol wieder zu spüren”. An ihrer feierwütigen Umgebung erahnt man, wodurch es oft erschwert ist, mit dem Trinken aufzuhören: der eigene Freundeskreis. Dort hört sie Verharmlosungsfloskeln wie: “Wenn Alkohol nicht auch ganz toll wäre, würden nicht so viele Menschen trinken” oder “Alkohol ist ein Freund, der immer da ist”.

Wenn Lisa erzählt, dass sie einige Zeit gar nicht trinken wollte, wird sofort der Sinn dessen hinterfragt. Denn es droht eine Saufkumpanin verloren zu gehen; zudem wird das eigene Suchtverhalten in Frage gestellt. Fraglich ist aber auch, ob diese Freunde auch dann noch da sind, wenn Lisa nicht mehr mit ihnen trinkt.

“Letzte Runde” entstand maßgeblich in der Corona-Zeit – was sich an der Allgegenwart von Masken im Alltag erkennen lässt. Snagovskaia arbeitet wenig mit Einzelinterviews, sondern vermittelt ihre Erzählung vor allem über Alltagsszenen. Die Methode, Figuren durch Einblicke in ihr Leben einzuführen, erinnert an fiktionales Erzählen. Dennoch hat man durchgängig das Gefühl, etwas Dokumentarisches zu sehen. Auch wenn Puristen sich an manchem etwas “gemacht” wirkenden Setting stoßen mögen. Auf einen einordnenden Kommentar zu verzichten, tut dem Film erkennbar gut.

Auch der junge Koch Boris muss sich vor seinen Freunden rechtfertigen, wenn sie in der russischen Stadt Tambow auf der Straße trinken, ohne immer so genau zu wissen, was sie da eigentlich hinunterkippen. Seine häufigen Sturzverletzungen im Suff, das ständige Erbrechen? Halb so wild, scheinen die Freunde zu denken. Gymnastiklehrerin Jenya dagegen wird von ihrer Mutter auf ihrem Weg in die Abstinenz bestärkt. Auch ihre Kinder betonen, dass sie am angenehmsten sei, wenn sie nicht trinke.

Regisseurin Snagovskaia betrifft das Thema auch persönlich: Sie selbst trinkt nach eigener Einschätzung ebenfalls deutlich zu viel. Zur Alkoholikerin sei sie erst in Deutschland geworden, wo sie meist Bier trinke. Für kurze Momente der Doku wird sie selbst zum Subjekt, ohne sich aber zum eigentlichen Zentrum des Geschehens zu machen. An “Letzte Runde” lässt sich auch lernen, wie man unaufdringlich subjektiv erzählt.

Wie repräsentativ das Trinkverhalten der Protagonistinnen und Protagonisten für Deutschland oder Russland sein soll, wird dagegen nicht recht deutlich. Russland als Referenzrahmen scheint vor allem der russischen Herkunft der Regisseurin geschuldet zu sein. Jenseits des Filmthemas vermittelt sich in den Bildern des zeitgenössischen Russlands, ob beabsichtigt oder nicht, ein omnipräsenter Nationalismus.

Dem jungen Vater Thomas kommen Zuschauerinnen und Zuschauer in “Letzte Runde” am nächsten. In einer Suchtklinik erzählt er seiner Therapiegruppe von seinen positiven Erfahrungen. Vor einem Rückfall wird ihn das aber nicht bewahren. Einen Besuch im Chemnitzer Fußballstadion sieht der Fan von Dynamo Dresden als Test dessen, was er aushalten kann – denn Fußball für ihn ihm seit jeher mit Alkohol verbunden. Suchtexperten halten solcherlei Proben und Durchhalte-Proben übrigens für eher leichtsinnig.

An ihm wie auch an den anderen Protagonisten lässt sich erkennen, dass Snagovskaia bemerkenswerte Porträts gelungen sind, da sich die Figuren vor der Kamera auf erstaunliche Weise öffnen – ohne dass der Film zu irgendeinem Zeitpunkt zur peinlichen Selbstentblößung auszuarten droht.