Zwei Tage, bevor sie aus dem Warschauer Ghetto in den Tod geprügelt wurde, schrieb Salomea Ochs Luft einen Abschiedsbrief an die Familie. Ihr letzter Satz: „Wenn ihr könnt, nehmt Rache“. Salomea wurde als junge Frau im April 1943 von den Nazis ermordet. 82 Jahre später wird auch an die Pianistin erinnert, wenn sich die Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen (UNO) in New York zur Holocaust-Gedenkzeremonie versammelt. Die Gedenkfeier findet in diesem Jahr am 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 statt. Dann wird der israelische Klarinettist Nur Ben Shalom auf musikalische Weise an seine Urgroßtante erinnern. Zusammen mit Musikerinnen und Musikern des Projekts „Lebensmelodien“ wird er vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen als klassische Interpretationen jüdische Melodien aufführen, die in den Ghettos und Todeslagern entstanden und erhalten geblieben sind.
Das Projekt „Lebensmelodien“ entstand am Karfreitag vor sechs Jahren nach einem evangelischen Rundfunkgottesdienst, den Nur Ben Shalom mit seiner Klarinette begleitete. Am Rande sprach er über seine Urgroßtante und den Brief, den sie an die geliebte Familie geschrieben hatte. Jahrzehntelang blieb er strikte Familiensache, schließlich machte Nur Ben Shalom die Botschaft zu einem Lebensthema. „Das ist mein Erbe. Ich habe mich entschieden, mit den ‚Lebensmelodien‘ auf meine Familiengeschichte zu antworten“.
Lebensmelodien: Ein musikalischer Spiegel der Schicksale ermordeter Jüdinnen und Juden
Mit Unterstützung des Berliner Evangelischen Kirchenkreises Tempelhof-Schöneberg wurden die „Lebensmelodien“ entwickelt. Seither erklingen Melodien und Musikstücke, die Juden im Angesicht ihrer Ermordung schufen, auf der ganzen Welt – in diesen Tagen auch vor der UNO. Immer wieder versammelt Nur Ben Shalom renommierte klassische Musiker und Sänger, um in Kirchen, Musiksälen, Gemeindehäusern zu spielen, aber auch in Schulen. Jüdische Lieder, bei weitem nicht nur Klagegesänge, erklingen dann in den Sprachen der Ghettos und Lager: Deutsch, polnisch, ungarisch, russisch, tschechisch. Das erklärt auch das internationale Engagement der „Lebensmelodien“.
Lebensmelodien sind Erinnerungskultur, musikalischer Spiegel der Geschichten und Schicksale ermordeter Jüdinnen und Juden. Seit drei Jahren sind sie auch ein Bildungsprojekt in vielen Schulen in Deutschland oder – in diesen Tagen – der internationalen Schule in New York. So werden die Fächer Musik, Geschichte und Gegenwartskunde zur musikalischen Übersetzung des Erinnerns. In Workshops lernen sie über das Leben und die Angst der Menschen, die musizierten – den Tod vor Augen. Unterstützt wird die Bildungsarbeit von der Friede-Springer-Stiftung, vom Auswärtigen Amt und vom Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.
Von Trost bis Aufschrei: Schülerinnen und Schüler auf den Spuren jüdischer Musik
Immer wieder nehmen Schüler ihre Erfahrungen mit den „Lebensmelodien“ zum Anlass für eigene Recherchen in der Region. Als sich eine Schülergruppe aus dem schwäbischen Ulm auf die Spur begaben, fanden sie heraus, dass der Sohn eines Ermordeten als Komponist in London lebt – und luden ihn ein, ihr Bildungsprojekt zu besuchen. Er kam. In solchen Begegnungen lernen und erleben Schülerinnen und Schülern, wie die jüdische Musik zum Anker des Lebenswillens, des Trostes oder des Abschieds wurde. Aber auch zu „Wenn ihr könnt, nehmt Rache“ – dem Aufschrei der jungen, todgeweihten Salomea Ochs Luft, den ihr Urgroßneffe Nur Ben Shalom 82 Jahre später musikalisch umsetzt. Mit „Lebensmelodien“.
Die Veranstaltung findet am 27. Januar um 17 Uhr deutscher Zeit im Livestream statt: