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Leben mit Organen von „Facebook-Freunden“

Über Facebook lässt sich in wenigen Tagen ein Spender finden. In Belgien und den Niederlanden sorgen „Facebook-Transplantationen“ für Diskussionen – weil die Ärzte gegensätzliche Ansichten haben

Benjamin Duerr

Den Haag – 1248 Namen stehen in Belgien auf der Warteliste für Spenderorgane. Drei Jahre müssen Patienten auf eine Spenderniere durchschnittlich warten. Roel Marien (39), Vater von zwei Töchtern, sagt, er habe diese Zeit nicht. Er machte sich selbst auf die Suche nach einem Organspender – und trat damit eine Diskussion los. Denn normalerweise werden Organe von Verstorbenen vergeben, gemäß einer Liste, die für mehrere Länder von der Organisation „Eurotransplant“ verwaltet wird.

Familienmitglieder können sich außerdem zu einer „Lebendspende“ bereiterklären. In Belgien kommen zudem Menschen infrage, die eine „beständige Verbindung“ zum Patienten haben – bisher waren das zum Beispiel Stiefgeschwister. In Deutschland werden Ehepartner akzeptiert, Eltern, Geschwister und Menschen, die dem Empfänger „in besonderer Weise persönlich verbunden sind“ (Kommentar Seite 5).
Roel Marien sprach mit seinen Ärzten. Am 12. Januar veröffentlichte er eine Nachricht auf seinem Facebook-Profil: „Dringend“, tippte er, und dahinter drei Ausrufezeichen. „Gesucht: Niere von lebendem Spender.“ Am besten wäre jemand mit Blutgruppe A negativ, zwischen 18 und 45 Jahren. In weniger als einem Monat hatten sich acht Menschen gemeldet, die zu einer Spende bereit waren.
Ende März haben sich die Ärzte jedoch zurückgezogen und wollen vorerst nicht operieren. „Jemand, der in sozialen Medien gut rüberkommt oder sehr aktiv ist, hat größere Chancen auf ein Spenderorgan“, sagte der ärztliche Direktor, Johan van Eldere, der niederländischen Zeitung „Trouw“ zur Begründung. Die Fähigkeit, sich selbst zu vermarkten, solle aber keine Rolle spielen.
Steven Vanderschueren, der als Internist in Leuven an der Beurteilung der Organspende-Kandidaten beteiligt ist, erzählt, es hätte in den vergangenen Tagen Unruhe unter Patienten gegeben, die zur Dialyse müssen, weil sie noch keine Spenderniere bekommen haben. Viele von ihnen hätten keinen Zugang zu sozialen Medien. „Die Mentalität ‚Wer am lautesten schreit, bekommt als erster‘ geht gegen ihr Gerechtigkeitsempfinden“, sagt Vanderschueren.
Nun ist die Frage: Sollen auch „Facebook-Freunde“ zu Organspendern werden? Die belgischen Ärzte wollen nicht operieren, solange es keine Regeln für diese Fälle gibt. Roel Marien klingt frustriert, wenn er sagt: „Sie verstecken sich hinter bürokratischen Formulierungen.“
Brisanz bekommt sein Fall, weil im Nachbarland erst vor Kurzem eine Organtransplantation zwischen „Facebook-Freunden“ stattfand. 2014 hatte Erardo Kea aus den Niederlanden einen Aufruf auf Facebook veröffentlicht, er suche einen Nieren-Spender. Auch er fand auf diesem Wege einen Spender – viel schneller als über das zentrale Vergabesystem.
In welchem Krankenhaus die Operation im Januar stattfand, soll geheim bleiben. Das Universitätsklinikum Amsterdam (AMC) wäre zu einer Transplantation bereit, auch wenn sich Spender und Empfänger über Facebook gefunden haben. „Für uns macht es keinen Unterschied, wie der Kontakt zustande gekommen ist“, sagt Marc van den Broek, Sprecher der Uniklinik. Das Argument der Ungerechtigkeit findet er verständlich, aber nicht unbedingt überzeugend: Wer einen großen Freundeskreis habe oder viele Leute kenne, habe „offline“ schließlich auch einen Vorteil.
Er glaubt, dass soziale Medien sogar einen positiven Effekt haben könnten: „Patienten, die selbst einen Spender finden – ob über Facebook oder im Freundeskreis –, kommen nicht auf die Listen und verkürzen so die Wartezeit für andere.“ Durch die Aufrufe würde die Aufmerksamkeit außerdem auf das Thema Organspende gelenkt.
Zwei kritische Punkte sieht dagegen Professor Wolfgang Eckart vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg. Erstens die Nähe zur Kommerzialisierung und dem Organhandel: „Wer kann noch kontrollieren, ob es sich um eine echte Freundschaftsleistung handelt oder nicht doch Geld gezahlt wurde?“ Zweitens das Kriterium der Verteilung: Das heutige System basiere auf festen und nachvollziehbaren Faktoren, nach denen Organe vergeben werden, sagt Eckart. „Aus Patientensicht mögen die Kriterien manchmal hart und ungerecht erscheinen – aber sie sind für alle gleich.“