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“Der Zug fährt erst ab, wenn Du tot bist”: Die Kunst des Neuanfangs

Den Partner jung an Krebs verlieren und sich neu verlieben. Oder ein Baby tot zur Welt bringen und wieder schwanger werden: Über den Mut zum Neuanfang haben zwei Autorinnen ein Buch geschrieben.

Für viele Frauen ist eine Fehlgeburt traumatisch
Für viele Frauen ist eine Fehlgeburt traumatischImago / photothek

Mirjams Hochzeit macht den Anfang des Buches: Es ist ihre zweite Eheschließung, ihr erster Mann starb mit 42 Jahren an Darmkrebs. Die Feier im Garten ist ein Neuanfang für sie und ihre drei Kinder – und für die beiden Freundinnen Sarina Pfauth und Debora Kuder der Moment, der sie inspiriert, ein ganzes Buch über “Die Kunst des Neuanfangs” zu schreiben.

“Dieses Fest war für uns ein sichtbares Zeichen dafür, dass eine Geschichte weitergehen kann, auch wenn die Situation ausweglos erscheint. Es ist möglich, dass nochmal etwas Neues beginnt”, schreiben die Kommunikationswissenschaftlerinnen in ihrem jetzt erschienenen Band. “Mirjam hat es als ein Privileg aufgefasst, leben zu dürfen, nachdem ihr Mann so früh sterben musste. Sie wollte ihr Leben nicht verbummeln.”

Menschen erzählen von Schicksalsschlägen und Umbrüchen

In dem Buch versammeln die Autorinnen also Neuanfänge aller Arten – solche, die erzwungenermaßen durch eine Krise entstehen und solche, die frei gewählt werden. Sie lassen Menschen erzählen von Schicksalsschlägen und Umbrüchen und von allem, was damit verbunden ist: Auswanderer Markus Stolz kommt zu Wort, der sich für den Weg in ein neues Land selbst entschied. Syrerin Shaden Sabouni erzählt, wie sie vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Deutschland fliehen musste, um hier ein neues Leben anzufangen. Die Hamburger Pastorin Josephine Teske berichtet von einer Totgeburt im neunten Monat und dem Mut, danach wieder ein Kind zu bekommen.

Und die Schweizerin Margrit Brüngger schildert, wie sie es fertigbrachte, als Rentnerin eine Hilfsorganisation in Tansania zu gründen. Dabei sei sie als junges Mädchen eher unsicher gewesen. “Einmal, als junge Frau, bin ich in einem Aufzug einem älteren, grauhaarigen Herrn begegnet. Als ich ausstieg, sagte er zu mir: ‘Sie können mehr, als Sie glauben und sich zutrauen.’ Und weg war er! Darüber war ich echt erstaunt, und diese Bemerkung ließ mich nie mehr los”, erzählt die heute 75-Jährige.

Glaube an Gott kann bei Neuanfängen helfen

Anfangen und enden, so zitieren die Autorinnen den Philosophen Romano Guardini, seien Grundkräfte, aus denen das Leben hervorgehe und von denen es grundgängig geprägt sei. “Aufwachen: etwas beginnt. Mit jedem Erwachen beginnt etwas Neues. Ein Tag, der noch nie war.”

Und mit jedem neuen Tag gehen die Menschen ganz unterschiedlich um, wie die protokollierten Geschichten zeigen. “Ich bin entscheidungsfreudig und kann schnell sagen, was ich will und was nicht”, sagt etwa Olaf, der einen Weinberg pachtete – ohne große Ahnung vom Weinanbau zu haben.

Dass der Glaube an Gott bei Neuanfängen helfen kann, kommt bei einigen der sehr unterschiedlichen Protagonisten zur Sprache, bei anderen spielt er gar keine Rolle. Josephine, die ihr Baby Samuel im neunten Monat verlor, sagt: “Ich glaube, dass Gott nicht in dem Sinn allmächtig ist, wie wir es gerne hätten. Ich glaube, Gottes Allmacht liegt darin, bei uns zu sein und uns Liebe zu schenken in allem, was uns passiert.”

Auch die Autorinnen haben sich mit persönlichen Neuanfängen auseinandergesetzt. Kuder scheute sich vor einigen Jahren, einen beruflichen Neuanfang zu wagen, obwohl sie sich im aktuellen Job nicht wohl fühlte. Eine Kollegin sagte damals zu ihr: “Du bist doch gläubig, also müsste es Dir doch umso leichter fallen”, berichtet sie. “Darauf dachte ich: Sie hat Recht: Was ist der Glaube, wenn ich mich nicht darauf verlassen kann?” Und sie fasste den Mut, zu kündigen.

Neuanfänge sind keine Selbstläufer

Die 43-jährige Autorin Sarina Pfauth erzählt: “Ich bin vom Typ eher beständig.” Durch das Buch habe sie Lust bekommen, neue Dinge anzufangen – und sei es im Kleinen. “Das kostet Kraft, lohnt sich aber.”

Natürlich seien Neuanfänge nicht per se Selbstläufer – und manchmal auch viel schwieriger als gedacht. Auswanderer Markus kamen auf Hawaii etwa Erdbeben und die Corona-Krise in die Quere – die Insel wurde isoliert und es kamen kein Touristen mehr, die wie geplant Gewürzsalze kaufen sollten. “Veränderung ist nie nur gut und nie nur schlecht”, stellt Kuder fest.

Rentnerin Brüngger gibt den Lesern mit auf den Weg: “Einfach ausprobieren, machen und loslegen. Ich finde, dass dafür der Zug auch mit siebzig oder achtzig noch nicht abgefahren ist. Er fährt erst ab, wenn du tot bist.”