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Klug werden

Klug sein an Erntedank heißt, genau hinzuhören, hinzuschauen, mit allen Sinnen die Ernte, ihre Grundvoraussetzungen und Bedingungen wahrzunehmen. Das beginnt mit Dankbarkeit: Gott zu danken, dass trotz vielleicht widriger Umstände eine gute Ernte eingefahren werden konnte, kein Hunger bei uns herrscht. Dazu gehört dieses Jahr aber auch: die lang anhaltende Trockenheit, welche Futterbau, Ackerbau, Obst-, Gemüse- und Weinbau Sorgen bereitete. Die Preismisere, welche markt- und politikbedingt die Existenz vieler bäuerlicher Betriebe gefährdet. Die fortwährenden Rabattschlachten des Handels ums „täglich Brot“, welche von den deutschen Billigmicheln dankbar goutiert werden. Und schließlich die öffentliche Wahrnehmung der Landwirtschaft – eine besondere „Kultur der Achtsamkeit“: In extremen Empörungswellen wird nahezu jede Woche ein tatsächlicher oder vermeintlicher Agrar- bzw. Ernährungsskandal entdeckt und aufgeregt in der Öffentlichkeit debattiert. Viele bäuerliche Familien fühlen sich dabei gesellschaftlich auf die Sündenbank gesetzt. Von Kultur der Anerkennung, Wertschätzung, Augenhöhe, keine Spur. Die Klugheit unserer Gesellschaft, auch vieler Christenmenschen, reduziert sich auf das Aufspüren von Defiziten, Fehlern, Gefahrenpotenzialen, Ängsten und Risiken. Wo bleibt die viel beschworene Klugheit menschlicher Zugewandtheit, christlicher Hoffnung, gemeinschaftlicher Zuversicht, auch für die Landwirtschaft, um Problemlösungen unaufgeregt, bedacht, weise und gelassen anzugehen.

Einen weiten Horizont gelebter Klugheit in den Blick zu nehmen – das ist gerade dieses Jahr eine große Chance für das Erntedankfest: sich im christlichen Miteinander von bäuerlichen Familien und Verbrauchern auf die Suche zu machen, wie ein gemeinsamer Weg für eine schöpfungsbewahrende Landwirtschaft gegangen werden kann – in gegenseitiger Wertschätzung und Anerkennung, in Augenhöhe und gesamtgesellschaftlicher Verantwortung für Saat und Ernte.

Dr. Clemens Dirscherl ist Geschäftsführer des Evangelischen Bauernwerks in Württemberg (Hohebuch) und Agrarbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).