Nicht ein kriselndes System unter Schmerzen am Laufen halten, sondern ganz neu denken: Steffen Bauers Vision von einer Kirche der Zukunft ist radikal. Im Gespräch mit Gerd-Matthias Hoeffchen sagt der Experte für Organisations-Entwicklung: Wir müssen handeln, jetzt!
Sparzwänge, Rückgang der Mitgliederzahlen, sexualisierte Gewalt – Kirche muss sich ändern. Wie weit sind die evangelischen Kirchen da?
Es passiert bereits ganz viel. Aber: Es dürfte gern schneller gehen. Außerdem sehe ich momentan ganz stark die Gefahr, dass die Reformen in die falsche Richtung gehen.
Wie das?
Bei den meisten laufenden und anstehenden Reformen geht es darum, die Organisation der Kirche zu optimieren. Das ist wie bei einem Auto, das in die Jahre gekommen ist. Man schraubt, schweißt, klebt. Vielleicht schafft man so noch ein paar Runden. Aber ganz sicher nicht eine lange, anspruchsvolle Reise. Notwendig wäre stattdessen ein neues Auto. Wir müssen und dürfen nicht mehr das Bestehende reparieren und optimieren, sondern eine echte Transformation anstoßen, einen grundlegenden Systemwechsel. Und zwar jetzt.
Was heißt das konkret?
Das bedeutet ganz viele Dinge. Vor allem: Wir müssen an die Grundstruktur der Kirche ran, an die Kultur des kirchlichen Miteinanders; wir müssen neu denken, was Leitung bedeutet und welche Leitungsorgane wir benötigen. Wir brauchen ein neues Zukunftsbild von Kirche, auf das wir dann alle unsere Reformschritte hin steuern. Wir haben in Deutschland zur Zeit 20 evangelische Landeskirchen. Alle arbeiten an Reformen. Und obwohl es zwischen ihnen Austausch und Abgleich gibt, arbeitet im Grunde jede Landeskirche für sich. Das ist der falsche Weg. Statt 20 Landeskirchen bräuchten wir sehr bald höchstens zehn, gern weniger.
Das ist ziemlich radikal …
Schauen Sie: Auf die Landeskirchen kommen 30 bis 50 Prozent Einsparungen zu in den nächsten Jahren. Dazu ein dramatischer Rückgang der Mitgliedszahlen. Und das alles sehr viel schneller als gedacht. Die Freiburger Studie von 2019 ging davon aus, dass sich bis 2060 die Zahl der evangelischen Mitglieder auf 10,5 Millionen halbiert. Damals erschien 2060 noch weit weg. Mittlerweile muss man klar sehen, dass wir bereits 2040 bei den 10,5 Millionen Mitgliedern angekommen sein werden. Und ich frage die Kirchenleitenden: Brauchen wir für 10,5 Millionen Mitglieder dann noch 20 Landeskirchen?
Das heißt, die Landeskirchen müssten schneller und vor allem gemeinsam Reformen planen, bis hin zu Fusionen der Landeskirchen. Wie realistisch ist das?
Die Beharrungskräfte sind riesengroß, das ist immer so bei großen Reformen. Umso mehr braucht es Menschen in Führungsverantwortung, die in größeren Zusammenhängen denken.
Wenn man über Fusionen von Landeskirchen spricht, heißt es bisher immer: Das geht nicht so einfach, die Unterschiede sind zu groß.
Aber das gleiche hört man ja, wenn man mit Gemeinden oder Kirchenkreisen, Dekanaten oder Klassen über Zusammenlegungen redet. Da sagen die Kirchenleitungen: Wir erwarten, dass ihr das trotzdem hinbekommt. Nur bei sich selbst, auf ihrer Ebene, tun sich die Leitungen der Landeskirchen bislang schwer damit. Dass es aber funktionieren kann, zeigt das Beispiel Nordkirche, die 2012 aus der Zusammenlegung von drei Landeskirchen entstanden ist.

Wie sieht die Kirche der Zukunft aus?
Zunächst einmal: Bei allen Krisen – ich erlebe vor Ort ganz viel Aufbrüche, Initiativen, gute Ideen und kreatives Engagement. Da muss einem nicht bange werden, dass Kirche keine Chance mehr hätte. Aber eben nicht mehr flächendeckend wie bisher.
Bedeutet das das Aus der klassischen Ortsgemeinde?
Das System der Parochie, also der klassischen, flächendeckenden Ortsgemeinden, die alles anbieten, wird so nicht zu halten sein. Stattdessen wird es viele unterschiedliche Formen geistlichen Lebens vor Ort und digital geben. Diese Flexibilität muss man zulassen und fördern. Es muss nicht mehr überall die traditionelle Gemeinde mit Pfarrer und Presbyterium mühsam erhalten werden, die den 10 Uhr-Gottesdienst am Sonntag anbietet, egal wie viele Menschen kommen. Stattdessen wird es starke regio-lokale Einheiten geben, in eigener Verantwortung, die je für sich entscheiden werden, wie sie Kirche in der Region sein wollen.
Wie groß sind diese Einheiten?
Anhaltspunkt können die politischen Gemeinden sein. In Deutschland gibt es 300 Landkreise und 100 kreisfreie Städte. Die schaffen es ja auch, sich selbst zu verwalten. Bei 10,5 Millionen Kirchenmitglieder wären das im Jahr 2040 im Durchschnitt 25000 Mitglieder pro Einheit. Darüber brauchen wir keine 20 Landeskirchen mehr.
Was sagen Sie denen, die einwenden: Das ist alles Panikmache, schaut man in die Geschichte und in die weltweite Christenheit, sieht man, dass es uns noch vergleichsweise gut geht in Deutschland?
Meine Antwort darauf: Gerade, weil wir jetzt noch etwas ändern können, gerade weil wir jetzt noch die Mittel und das Personal haben, über sinnvolle und zukunftsfähige Lösungen nachzudenken und sie umzusetzen, gerade deshalb müssen wir es jetzt tun. Jetzt! Alle, die nach uns kommen, werden diese Mittel schon nicht mehr haben. Und dann werden wir sehr bald einfach nur noch einsparen müssen, ohne darüber nachdenken zu können, was sinnvoll und theologisch verantwortlich wäre.