Laut Bundeskriminalamt gibt es hunderte Kinder, die etwa zu sexuellen oder kriminellen Handlungen gezwungen werden; die Dunkelziffer ist größer. Experten ziehen Bilanz – zum Internationalen Tag gegen Menschenhandel.
Die Geschichte von Christiane F. – sie wiederhole sich immer noch auf den Straßen der Hauptstadt, sagt Nikklas Berger. Der 34-Jährige ist Kriminaloberkommissar beim Landeskriminalamt im Bereich Menschenhandel und Zwangsprostitution. Er ist spezialisiert auf Delikte zum Nachteil von Minderjährigen.
Christiane Felscherinow wurde in den 1970er Jahren durch die Aufzeichnung ihrer Geschichte bekannt, als sie mit 14 Jahren ihr Geld auf dem “Babystrich” am Bahnhof Zoo verdiente, um so ihre Drogensucht zu finanzieren. Minderjährige, die sich deshalb prostituieren, gebe es in Deutschland immer noch, sagt Berger – auch wenn sich das Phänomen zunehmend ins Internet verlagere. “Gemeinsam ist vielen Betroffenen, dass sie aus einem zerrütteten Elternhaus stammen, drogenabhängig sind und ihnen das Sozialgefüge fehlt.” Oft handele es sich auch um Dauerausreißer. Dabei kämen Betroffene aus allen sozialen Schichten.
Das Bundeskriminalamt (BKA) hat seit 2020 rund 300 Kinder und Jugendliche registriert, die in Deutschland etwa zu sexuellen oder kriminellen Handlungen gezwungen wurden. Das sind die offiziellen Zahlen; Fachleute gehen von einer sehr viel höheren Dunkelziffer aus. Menschenhandel und Ausbeutung von Kindern existieren demnach in vielerlei Formen. Dazu zählen etwa sexuelle Ausbeutung, Betteltätigkeiten oder der Handel mit Kindern zum Zweck der Organentnahme.
In Berlin gibt es seit einem Jahr die bundesweit einzige Beratungsstelle für Minderjährige, die von Menschenhandel betroffen sind. Träger ist der katholische Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit In Via Berlin; finanziert wird die Stelle von der Senatsverwaltung für Jugend. Sie soll Jugendämtern, Schulen oder Psychologen Expertise bieten – und betroffenen jungen Menschen helfen.
Wie ist die Bilanz nach einem Jahr? Sozialpädagogin Martina Döcker leitet die Fachberatungsstelle und sagt: “Der Anteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen, die sich selbst bei uns melden, ist erwartungsgemäß sehr gering.” Eher seien es Angehörige, Sozialarbeiter oder Lehrer, die Auffälligkeiten wahrgenommen hätten – oder Polizei und Jugendamt.
Das liege auch daran, dass Kinder und Jugendliche sich oft selbst nicht als Betroffene wahrnähmen; wenn sie etwa von der Familie zum Klauen angeleitet werden, sei ihnen nicht klar, dass dies Ausbeutung sei. Hinzu komme, dass diese Kinder von Ermittlungsbehörden sowie der Öffentlichkeit meist ausschließlich als Personen wahrgenommen werden, die kriminelle Handlungen begehen. “Zunächst einmal ist es deshalb wichtig, dass Kinder und Jugendliche überhaupt von uns als Beratungsstelle erfahren”, sagt Döcker.
Die allermeisten Ausbeutungsformen fänden im sozialen Nahfeld statt, erklärt Berger vom zuständigen LKA-Kommissariat. Die Beweisführung von Fällen der Zwangsprostitution sei dabei schwierig. Das liege mitunter auch an den Geschädigten selbst. “Bei der Polizei haben wir eine Aussage der Betroffenen. Aber wenn es vor Gericht geht, kann es durchaus sein, dass manche die Aussage nicht aufrecht erhalten.”
Er schildert einen typischen Fall: ein 13-jähriges Mädchen, das aus einer Jugendeinrichtung ausgerissen war und bei einem erwachsenen Mann wohnte. “Erst hat sie ihn wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Aber dann merkte sie, wie sehr sie von dem Unterschlupf und von ihm emotional abhängig war und wollte vor Gericht keine Aussage mehr machen. Ins Heim wollte sie nicht zurück – und zurück zu den Eltern war auch keine Alternative.”
Ein anderer “Klassiker” ist die sogenannte Loverboy-Methode: Dabei wird ein Mädchen von seinem Freund aufgefordert, durch Prostitution Geld zu verdienen – damit sie zusammen etwa eine größere Wohnung suchen können. “Was dagegen helfen würde, wäre mehr Aufmerksamkeit und Aufklärung der Gesellschaft”, sagt Berger. “Ausbeutung zu erkennen ist oft schwer, da Opfer eingewickelt werden und nicht erkennbar unter Zwang agieren. Keiner sagt offen: ‘Ich habe einen neuen Freund und gehe für den anschaffen'”.
Dabei sind von sexueller Ausbeutung nicht nur minderjährige Mädchen betroffen: Mit einer Kampagne unter dem Motto “Ball spielen statt Blow Job” wirbt das LKA Berlin für besseren Schutz von Minderjährigen – insbesondere von Jungen: Im Berliner Tiergarten gibt es demnach Bereiche, in denen sich männliche Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren im Auftrag der Familie aus Osteuropa prostituieren, um das Einkommen aufzubessern.
Bei der Beratungsstelle In Via gibt es laut Leiterin Döcker im Schnitt zwei bis drei Beratungsanfragen pro Woche – “meistens geht es dabei um sexuelle Ausbeutung, aber auch um Ausnutzung strafbarer Handlungen – wie etwa Einbrüche oder Trickbetrug.” Es müsse genau hingeschaut werden, um Kindern in dieser Situation gerecht zu werden.
Die 50-Jährige nennt ein Beispiel: “Eine Mutter verschafft sich Zugang zu einer Wohnung und stiehlt gezielt Geld und Wertsachen, während das kleine Mädchen den Bewohner ablenkt. Wie wird man dem Mädchen gerecht? Es ist in diese Strukturen hineingewachsen. Solche Kinder werden sich hier nicht melden. Und sie würden auch nie sagen, dass sie dazu gezwungen würden.”
Eine Möglichkeit sei die konsequente Ansprache der Eltern: “Man muss sie auf die Gefahren hinweisen, denen sie das Kind ausliefern.” Dabei sei entscheidend, ob es auch andere Möglichkeiten gebe, sich den Lebensunterhalt zu sichern.
Die Sozialpädagogin berichtet zudem von so genannten Taschengeldtreffen: Dabei erbrächten Minderjährige eine sexuelle Dienstleistung für ein geringes Entgelt, um damit ihr Taschengeld aufzubessern. “Es ist sehr wichtig, rechtzeitig aufzuklären und Kindern und Jugendlichen klar zu machen, wie gefährlich so etwas ist.” Durch Soziale Medien und das ständig verfügbare Internet seien Minderjährige besonders gefährdet, Opfer von sexueller Ausbeutung zu werden.
Ähnliches kennt auch Berger: Oft erbrächten Kinder und Jugendliche demnach für eine Gegenleistung wie Klamotten oder ein paar Euro sexuelle Dienstleistungen. “Wenn man die Kinder dann fragt. ‘Warum hast Du das gemacht?’, sagen sie: “Weiß ich nicht. Und: Sie wissen es wirklich nicht. Das ist der Grund, warum es diese Gesetze gibt, die die Sexualität von Jugendlichen besonders schützen sollen. Die Kinder und Jugendlichen verstehen nicht, was passiert, können die Tat nicht überblicken.”
Auch in anderen Bereichen gibt es Ausbeutung – wie etwa bei der Bettelei: In der Regel würden Kinder selbst nicht zum Betteln eingesetzt, sondern seien mit dabei, um Mitleid zu erregen, berichtet Berger. Ermittlungen in solchen Bereichen sind ihm derzeit nicht bekannt. Soll heißen: kein Fall im Hellfeld, eine unbekannte Zahl von Dunkelfällen.
Meist handele es sich um Bettelei mit Bandenstrukturen – und an die heranzukommen und Verfahren zu initiieren sei sehr schwierig. Ähnlich sei es mit dem Organhandel von Kindern: Auch hier ist kein Fall bekannt – was nicht heißt, dass es keinen gibt. Denn: “Keiner von denen, die daran beteiligt sind, hat ein Interesse daran, dass das auffliegt”, sagt Berger. “Damit gibt keiner aus Versehen an – wie etwa mit einem Einbruch.”