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“Keine vergessenen Orte mehr”

Matti Duwe und Leo Nguyen machen an der Ecke des Lüneburger Marktplatzes halt. Hinter ihnen hat ein Deko-Laden schon Weihnachtsschmuck in die Fenster gehängt. „Dort war das Kaufhaus GUBI, gut und billig“, sagt Matti und zeigt auf das Eckhaus. Leo hebt das Foto eines Lieferwagens hoch, mit dem der jüdische Inhaber Henry Jacobson in den 1930er-Jahren Waren bis nach Hamburg ausgeliefert hat. „Mit innovativen Ideen machte er GUBI zu einem großen Kaufhaus“, erläutert der 16-jährige Matti.

Die beiden Schüler der Wilhelm-Raabe-Schule in Lüneburg führen bei ihrem Rundgang auf den Spuren jüdischen Lebens durch die Stadt. Kurz vor dem Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 erzählen sie davon, wie 1933 SA-Leute in einer Boykott-Aktion das GUBI besetzt hatten. „Sie haben Fotos von denen gemacht, die dort einkauften und sie an die Gestapo geschickt“, sagt Matti.

Drei Jahre vor Beginn der systematischen Massendeportationen und nach zahlreichen rechtlichen Diskriminierungen erhielt die Verfolgung der Juden mit den Ausschreitungen im November 1938 einen neuen Charakter. Als eines von zwei verbliebenen jüdischen Geschäften in Lüneburg war das GUBI Ziel der Zerstörungswut der Nazis. Die Jacobsons entkamen zwar in die USA. Doch sie mussten stark unter Wert verkaufen und lebten zunächst mittellos in New York.

Rolf Behncke von der Geschichtswerkstatt Lüneburg gehört zu denjenigen, die Matti, Leo und weitere Mitschülerinnen und Mitschüler in einer freiwilligen AG ihrer Schule ausgebildet haben. Er zeigt ihnen bei seinen Musterführungen auch, wie sie Akzente setzen können. „Wenn ich alles erzählen würde, würden die Besucher einschlafen“, sagt er mit einem Schmunzeln. Es gebe sehr viel zu berichten.

Gemeinsam mit Einzelpersonen, dem Museum Lüneburg und Initiativen wie der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hat die Geschichtswerkstatt über Jahrzehnte hinweg Informationen über die Geschichte der Juden in Lüneburg zusammengetragen. Die Historikerin Anneke de Rudder hat diese ergänzt und bearbeitet. Vor einem Jahr hat sie die Seite www.jüdisches-leben-in-lüneburg.de online gestellt, die bisher 674 Personen auflistet. „Das Projekt ist noch lange nicht fertig“, sagt de Rudder. „Ich vermute, es werden mehr als 800 Personen werden.“ In diesem Umfang sei die Initiative wohl einzigartig.

Zu Beginn der NS-Zeit 1933 wurden in Lüneburg 114 Jüdinnen und Juden gezählt, 1937 waren es nur noch 38. In ihrer Blütezeit hatte die jüdische Gemeinde rund 180 Mitglieder, sagt de Rudder. Für 200 Menschen war auch die 1894 eingeweihte Synagoge ausgelegt. Als in der Pogromnacht in ganz Deutschland Synagogen brannten, wollten auch in Lüneburg junge Aktivisten den prächtigen Bau in Brand setzen, sagt die Historikerin. „Doch ihnen wurde gesagt, das lohnt nicht.“ Bereits im Oktober 1938 hatte die jüdische Gemeinde die Synagoge „auf Abbruch“ verkaufen müssen. Noch im selben Winter wurde sie eingerissen.

Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hat dafür gesorgt, dass heute eine Gedenkstätte an die Synagoge erinnert. Auf ihre Initiative hin wurde auch die Trauerhalle auf dem jüdischen Friedhof saniert und im Mai an den Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen übergeben. Als Nächstes sollen dort Grabsteine nach alten Fotos rekonstruiert werden. „Es sind keine vergessenen Orte mehr“, sagt de Rudder.

Leo und Martin wollen bei ihren Führungen ebenfalls Erinnerungen wach halten, damit sich Entwicklungen nicht wiederholen. In einem Hinterhof ein wenig abseits vom Getümmel der Innenstadt erzählt Leo davon, wie Adolf Hitler bereits 1932 auf einem Sportplatz in Lüneburg eine Rede hielt – vor rund 20.000 Menschen. Hitler habe offen ausgesprochen, dass er die Demokratie abschaffen wolle, sagt der Schüler. „Die Leute waren begeistert von den einfachen Worten, die einfache Lösungen versprachen.“