Predigttext
12 Weil Jesus gekommen war, um das Volk durch sein eigenes Blut zu heiligen, musste er außerhalb der Stadtmauern sterben. 13 Lasst uns daher zu Jesus vor das Lager hinausgehen und die Schmach auf uns nehmen, die auch er getragen hat. 14 Denn hier auf der Erde gibt es keinen Ort, der wirklich unsere Heimat wäre und wo wir für immer bleiben könnten. Unsere ganze Sehnsucht gilt jener zukünftigen Stadt, zu der wir unterwegs sind.
(Neue Genfer Übersetzung)
Etwa zwei Wochen vor Ausweitung der Corona-Pandemie fahre ich beschwingt durch Ostwestfalen. Die Sonne scheint, Bauernhöfe links und rechts, kaum Berge. „Nicht meine Heimat“, denke ich – schließlich bin ich gebürtige Siegerländerin. In Minden erörtere ich mit lebhaften Frauenhilfefrauen das Thema „Heimat“. „Heute hier, morgen dort…“ – das Lied von Hannes Wader regt an, von wechselnden Orten im Leben, von Liebe zur und dem Gestalten neuer Heimat zu erzählen.
Auch vom Heimat-Verlieren: Viele Frauen haben Umzüge erlebt, der Liebe wegen oder berufsbedingt. Etliche haben Flucht oder Vertreibung erlebt – aus Schlesien oder Russland. Als ich nach Eltern und Großeltern frage, wird deutlich: Nahezu jede hat eine Migrationsgeschichte.
Migration bedeutet wandern
Migration bedeutet laut Lexikon, zu wandern – meist in ein anderes Land. Mein Urgroßvater Ludwig migrierte 1924 nach Brasilien – mit fast nichts im abgeschabten Lederkoffer. Frau und Kinder wollte er nach dem Aufbau einer Existenz nachholen. Doch Heuschrecken machten ihm einen Strich durch die Rechnung: Sie fraßen die jungen, aus mühsam gesäten Bohnen gesprossenen Pflänzchen restlos auf. Irgendwann war das Geld für Saatgut aufgebraucht; nach einem knappen Jahr trat er ernüchtert den Rückzug an. Ludwig – ein Wirtschaftsflüchtling, Ludwig – ein Heimkehrer.
A propos Migration: Auch ein Virus ist migriert. Hat längst Grenzen überschritten und bedroht unser aller Leben. Politik, Gesellschaft und Kirchen rücken zusammen – und halten Abstand, um Schlimmeres zu verhindern. Jede Bürgerin, jeder Bürger ist gefordert, Verantwortung zu übernehmen, Kontakte zu meiden, sich einzuschränken um eines größeren Ganzen willen. Das tut an vielen Stellen not: 2017 wurden etwa 19 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen – durch teils klimawandelbedingte Naturkatastrophen. Auf Lesbos leben derzeit 42 000 Geflüchtete in Lagern… Abstand halten? Zynisch.
Judika: Herr, schaffe mir Recht
Was tun angesichts von Not, die mir den Atem raubt? Vielleicht dies: „Herr, schaffe mir Recht!“ rufen, solidarisch an der Seite der Notleidenden – gerade an diesem Judika-Sonntag, der diese Klage im Namen führt und zu dem der Landesverband Evangelische Frauenhilfe in Westfalen jährlich eine Arbeitshilfe herausgibt. Allerorten wird derzeit Gottes Gerechtigkeit vorangetrieben: In Krankenhäusern und Apotheken, in der Forschung, in Lebensmittelbetrieben und auf Äckern wird auf Hochtouren gearbeitet, um Mensch und Wirtschaft am Leben zu erhalten.
Auch im Mittelmeer, wo bald das von einem großen Bündnis und der evangelischen Kirche gekaufte Seenotrettungsschiff vom Stapel laufen wird.
Was unsere Hoffnung nährt
Woran orientieren wir uns? An Jesus, der „außerhalb der Stadtmauern“ starb. Als vermeintlicher Verbrecher, der an andere Werte glaubte als an Unterdrückung, Ausbeutung, Egoismus. Der Gerechtigkeit, Heimat, Leben für alle wollte und keine Blut- und Boden-Ideologie. Deshalb gehen Christinnen und Christen wie Jesus „vor die Mauern der Stadt“, zum tiefschwarzen Golgatha des Mittelmeers. Per Telefon zu den Einsamen, mit Schutzkleidung auf Krankenstationen, zünden Kerzen an, teilen Trostlieder per Video, beten zu Gott.
Um an diesen Orten Jesu Leid mitzutragen und Leben zu bewahren. „Vor den Stadtmauern“ bedeutet damals wie heute: bei den randständigen Existenzen, nicht geschützt durch ein Stadtrecht, ausgegrenzt, ohne Mundschutz, ohne Hoffnung. Golgatha: Lesbos, Syrien, die türkisch-griechische Grenze, Krankenstationen, Pflegeheime und andere Orte.