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Kein Rückzug ins Private

Das Bürger-Engagement lässt nicht nach. Erstmals gibt es über 600 000 Vereine

Von wegen Vereinssterben: Die Zivilgesellschaft in Deutschland ist so lebendig wie nie zuvor. Und sie wird politischer. Erstmals gab es 2016 mehr als 603 000 Vereine, hat die kürzlich in Berlin veröffentlichte zweite Studie „Zivilgesellschaft in Zahlen“ des Stifterverbandes für die deutsche Wissen-schaft herausgefunden. Derzeit sind rund 36 Millionen Jugendliche und Erwachsene als Mitglied in mindestens einem Verein eingeschrieben – fast jeder Zweite also.
Für die Autoren steht fest: Problematische Entwicklungen der jüngsten Zeit haben die Bürger eher mobilisiert – und nicht zu einem Rückzug ins Private geführt. Die Zivilgesellschaft zeige sich als ein weithin stabiler Bereich.
Bei den meisten Vereinen (42 Prozent) ist die Zahl der Mitglieder auf gleichem Niveau geblieben. Bei rund einem Drittel (35 Prozent), vor allem bei größeren Vereinen mit mehr als 500 Mitgliedern, sind die Mitgliederzahlen sogar gestiegen. Stabil zeigt sich auch die Zahl der freiwillig Engagierten: Bei den meisten Organisationen (62 Prozent) ist ihre Zahl unverändert. Bei 22 Prozent engagieren sich heute mehr Menschen als 2012. Allerdings warnen viele Organisationen, dass es schwieriger wird, Menschen langfristig an eine Aufgabe zu binden.
Städtische Zivilgesellschaften erweisen sich laut Studie als politischer. Auf dem Land ist das traditionelle Vereinswesen fest verankert. Als besonders attraktiv erweisen sich Organisationen, die neue Handlungsfelder wie Bürger- und Verbraucherinteressen oder internationale Solidarität bedienen. Als Beispiel führt die Studie die 185 Bewohner des hessischen Dorfs Dalwigksthal an. Sie betreiben seit 2012 das frühere Dorfgemeinschaftshaus als Kneipe und offenen Treff für jedermann.

Immer mehr Migranten organisieren sich

Fußball-, Wander-, Angel- oder Schachclubs: Der Sport ist mit 22 Prozent der größte Organisationsbereich. Aber hier sagen nur 32 Prozent der etwa 133 000 Vereine, dass ihre Mitgliederzahlen wachsen. Bei Vereinen, die Bürger- oder Verbraucherinteressen vertreten, sind es 51 Prozent. Mit 18 Prozent ist Bildung und Erziehung das zweitgrößte Handlungsfeld. Mehr als ein Drittel der Vereine konnte seit 2012 die Mitgliederzahlen erhöhen.
Jeder fünfte Verein ist ein Förderverein. Knapp 30 Prozent von ihnen wurde erst nach 2006 gegründet. Damit ist der Förderverein eines der am stärksten wachsenden Segmente. Die Integration von Migranten und Flüchtlingen ist mittlerweile ein Aufgabengebiet, das übergreifend angenommen wird: 24 Prozent der gemeinnützigen Organisationen entwickeln hier Engagement.
Auch die Migranten organisieren sich – in 17 000 Migrantenorganisationen. Sie reagieren damit offenbar aber auch auf eine nur langsam wachsende Offenheit vieler Organisationen. „Noch immer gelten Vereine oft als geschlossene Gruppen“, unterstreicht die Studie: Der Großteil aller Organisationen gibt an, Mitglieder und Engagierte seien kulturell eine eher homogene Gruppe. Das trifft auf 90 Prozent der religiösen Vereinigungen und 70 Prozent der Sport- und Freizeitvereine zu.
Bei allem Lob sieht die Studie auch Probleme: In einer Demokratie könne eine schwindende gesellschaftliche Verankerung von Parteien nicht durch das Wachstum zivilgesellschaftlicher Strukturen ausgeglichen werden. Angesichts des Flüchtlingszuzugs hätten viele Bundesbürger den Eindruck gewonnen, dass ihre Ängste und Sorgen von Politik und Parteien nicht aufgegriffen worden seien. Dadurch seien fremdenfeindliche und rechtspopulistische Ideologien gewachsen.