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Kältehilfe-Chef: “Auch der Sommer kann lebensbedrohlich sein”

Mit dem Beginn des Mai endet in Berlin auch die Kältesaison, während der es zusätzliche Übernachtungsplätze für Obdachlose gibt. Der Koordinator der Berliner Kältehilfe, Jens Aldag, zieht gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) Bilanz, spricht über die größten Herausforderungen und warnt vor dem Sommer.

epd: Wie fällt Ihre Bilanz zur abgelaufenen Kälteperiode aus?

Aldag: Aus unserer professionellen Sicht war es unspektakulär, ähnlich wie im vergangenen Jahr. Es gab eine geringe Steigerung an Plätzen und Gästezahl. Unsere Ehrenamtlichen haben natürlich wieder viel Leid erlebt. Aber es war ein solider Verlauf. Wir waren ganz gut aufgestellt, es gab ein paar Phasen der extrem hohen Auslastung, aber unterm Strich sind wir damit erstmal zufrieden. Was uns eher umtreibt, sind neue Zahlen des Wohnungslosenberichts des Bundes. In Berlin gibt es demzufolge knapp 8.400 Wohnungslose. Das ist natürlich eine Hausnummer, wenn wir im Gegensatz dazu in der Spitze nicht mal 1.200 Menschen in den Notübernachtungen haben.

epd: Vor ein paar Jahren gab es in Berlin ja die deutschlandweit erste Obdachlosenzählung, die auf knapp 2.000 Personen kam.

Aldag: Da war damals schon allen klar, dass die Dunkelziffer hoch sein muss. Die Leute mussten ja im öffentlichen Raum überhaupt erstmal erkennbar sein. Natürlich sind die neuen Zahlen des Wohnungslosenberichts auch Hochrechnungen. Sie wurden aber von renommierten Institutionen vollzogen – das wird eine Zahl sein, die Hand und Fuß hat und um die man nicht herumkommt. Um nochmal auf die Diskrepanz zwischen den 1.200 Menschen in den Notübernachtungen und den 8.400 Wohnungslosen aus der Statistik zurückzukommen: Da fragt man sich schon, warum wir nur so wenige erreichen.

epd: Aber sie hätten doch gar nicht viel mehr Plätze?

Aldag: Ich bin immer dafür, es mit mehr Plätzen oder neuen Angeboten zu versuchen. Aber wir brauchen höchstwahrscheinlich neue Strategien, um an Leute heranzukommen. In der Spitze hatten wir 1.200 Plätze. Das war während des Wintereinbruchs im Februar. Über die ganze Saison hinweg betrug die Auslastung knapp 90 Prozent, im Februar mehr als 92 Prozent. Einzelne Einrichtungen sind an manchen Tagen auch auf mehr als 100 Prozent gekommen.

epd: Die Zahlen, von denen sie sprechen, sind von Anfang April, als sie eine vorläufige Bilanz der Kälteperiode vorgestellt hatten.

Aldag: Wir werden Anfang Mai die Gesamtauslastung vorstellen, das ist quasi der zahlenmäßige Abschlussbericht inklusive des Monats April. Da sind noch leichte Korrekturen dabei, aber das ist minimal. Die Auslastung ist durch das warme Wetter im April auf 800 gesunken.

epd: Welche Herausforderungen gab es in dieser Kälteperiode?

Aldag: Es gab viele, aber keine außergewöhnlichen. Vor allem fehlen uns Immobilien, für die kommende Kältehilfe-Saison sind 200 Plätze vakant. Da müssen wir Alternativen finden. Auch genug Ehrenamtliche zu finden ist immer ein Problem, die Fluktuation ist hoch. Es ist schwierig, wenn Leute für nur ein paar Wochen einsteigen. Man braucht einen Stamm an erfahrenen Helfern, die wissen, wie es läuft, wie man mit den Menschen umgeht und eine Ahnung vom Versorgungssystem haben. Da sind wir natürlich sehr froh, wenn wir Leute finden, die das länger machen. Hinzu kommt noch ein Generationswechsel. Gerade die alten Hasen, die ganz lange dabei waren und viel Erfahrung haben, sind mittlerweile jenseits der Rente.

epd: Kommen denn genug junge Ehrenamtliche nach, um das kompensieren zu können?

Aldag: Wir hoffen sehr, dass es kompensierbar ist. Aber man sieht, dass die Anforderungen mehr werden. Es gibt heutzutage eine höhere Palette an Personen und Problematiken, gerade mit dem hohen Anteil an Migranten, die auch mit ganz anderen Themen kommen. Es braucht Fortbildungen, die den jungen Ehrenamtlichen Unterstützung bieten. Von der Senatsverwaltung gibt es jetzt ein neues Programm, das eine Supervision möglich gemacht.

epd: Was bedeutet das?

Aldag: Dass wir mit Ehrenamtlichen gemeinsam ein gravierendes Erlebnis verarbeiten. Etwa, wenn jemand auf der Straße stirbt und sich nicht helfen lässt. Auch Aggression ist immer wieder Thema. Zumindest gefühlt hat aggressives Verhalten in den vergangenen Jahren zugenommen. Ob man das quantitativ an Vorfällen bemessen könnte, weiß ich nicht. Aber das beklagen die Ehrenamtlichen, die ja mit dem Wunsch zu helfen herkommen.

epd: Sie haben von Leuten gesprochen, die sich nicht helfen lassen wollen. Woran liegt das?

Aldag: Das kann beispielsweise an Alkohol und anderen Drogen liegen. Sie wissen, dass sie aufgrund ihres Suchtdrucks gewissen Anforderungen nicht entsprechen werden. Etwa, dass man in einigen Bereichen nicht konsumieren darf, dass man in der Unterkunft in einer Art und Weise mitgestalten muss, die ein akut Süchtiger nicht hinbekommt. Aber oft liegt es auch an psychischen Erkrankungen.

epd: Was ist die Rolle der Kältebusse?

Aldag: Die Kältebusse machen vor allem Transporte, aber eigentlich nur für Menschen, die nicht mehr mobil sind – das soll kein erweiterter Taxidienst sein. Und sie motivieren die Leute, doch noch in eine Unterkunft zu gehen. Wer das nicht will, wird akut versorgt, mit Decken, Schlafsäcken oder Getränken. Denn man kann natürlich niemanden zwingen, in den Kältebus einzusteigen. Wenn keine Selbstgefährdung vorliegt, werden auch Polizei und Feuerwehr nicht anderes als eine Notversorgung machen. Manche Obdachlose haben einfach Angst, dass ihr angestammter Platz auf der Straße weg ist, wenn sie weggehen.

epd: Wenn man jemanden in einer kalten Nacht auf der Straße sieht: Wie sollte man handeln?

Aldag: Generell, und das gilt auch für das ganze Jahr: Ansprechen, fragen, ob die Person Hilfe braucht, ob es ihr gut geht. Gerade das zwischenmenschliche ist ein großer Faktor. Obdachlose erfahren viel Ablehnung und sind oft einfach dankbar, wenn man sich ihnen zuwendet. Es hilft gar nichts, wenn man nur überlegt, der benötigt eigentlich Hilfe. Und wenn eine Person sagt, dass sie Hilfe möchte: Die App der Kältehilfe parat haben, nach der nächsten Einrichtung suchen, dort anrufen.

epd: Was passiert eigentlich im Sommer?

Aldag: Wir als Koordinierungsstelle sind schon wieder dabei, auf Immobilienakquise zu gehen. Es ist absehbar, dass einige Immobilien höchstwahrscheinlich nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Die Zahlen von dieser Saison wollen wir wieder erreichen, weil sie offensichtlich ja auch nötig sind.

epd: Wie viele Übernachtungsplätze gibt es im Sommer?

Aldag: Ungefähr 460. Etwa die Frauenunterkunft “Evas Obdach”, die gerettet wurde. Die Immobilie hat das Land Berlin aufgekauft – ich hoffe, dass das Beispiel Schule macht. Wir akquirieren ja nur und kaufen nicht. Gott sei Dank kommen ab und zu Immobilienbesitzer auf uns zu, beispielsweise Hotels, die in den kommenden Jahren saniert werden. Das ist natürlich herzlichst willkommen, aber leider selten der Fall.

epd: Inwiefern beeinflusst der Klimawandel die Obdachlosenarbeit?

Aldag: Der Hitzeschutz ist mittlerweile genauso wichtig wie der Kälteschutz. Auch der Sommer kann lebensbedrohlich sein, da braucht es mehr Schutz in der Mittagszeit. Wir fordern ganz klar mehr ganzjährige Angebote. Von daher ist es wichtig, dass sich die Hitzehilfe in der öffentlichen Wahrnehmung und im Landeshaushalt etabliert. Bisher ist die Hitzehilfe auf den guten Willen des Senats angewiesen. Es gibt noch keinen festen Posten dafür.

epd: Es gibt ja das EU-Ziel, dass bis 2030 niemand mehr obdachlos sein muss.

Aldag: Es ist immer gut, sich große Ziele zu stecken. Aber da es im Augenblick noch keine Trendwende gibt, hoffe ich, dass alle sehen, wie intensiv der Handlungsbedarf ist. Ich wüsste nicht, dass es weniger Obdachlose als in den Vorjahren gibt. Also wäre ich schon froh, wenn es überhaupt einen Rückgang gäbe. Das heißt nicht, dass die Akteure untätig sind – aber es wird bei weitem noch nicht genug getan.