Mehr als 120 Evangelische Studierendengemeinden gibt es an deutschen Universitäts- und Hochschulstandorten. Über die besondere Situation dieser Gemeinden sprach Anke von Legat mit der Bundesstudierendenpfarrerin Corinna Hirschberg.
Ein Handbuch zum Thema Studierendenseelsorge – wozu braucht man das?
Corinna Hirschberg: Zum einen gab es zuvor kein Überblickswerk über die Arbeit, die Kirche an Hochschulen leistet, sondern nur verstreute Beiträge zu verschiedenen Aspekten dieser Arbeit. Darum stellen wir in dem Buch neben einem geschichtlichen Überblick die Themen und Arbeitsfelder in diesem Bereich umfassend dar. Und zum anderen möchten wir zeigen, was evangelische Studierendengemeinden – abgekürzt ESGn – heute sind; was sie anbieten, wofür sie stehen, wie sie sich selbst sehen und wohin sie sich entwickeln. Die insgesamt 47 Artikel sind von ESG-Pfarrerinnen und -Pfarrern geschrieben, aber auch von Professorinnen und Professoren, um eine Einordnung von außen zu erhalten. Das Geleitwort stammt von dem damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm.
Für wen sind diese Informationen gedacht?
Für Studierende und Lehrende an den Hochschulen und Universitäten, aber auch für Menschen, die diese Gemeindeform vor 30 oder 40 Jahren erlebt haben und heute oft leitende Positionen in kirchlichen Gremien haben. Außerdem nehmen wir mit unserem Handbuch eine Gruppe in den Blick, die in der Kirche oft vernachlässigt wird: junge Menschen, die nicht mehr in der Jugendarbeit zu finden sind, sich aber auch noch nicht fest eingerichtet haben. Ihre Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt.
Im Titel steht das Wort Seelsorge – geht es also vor allem um diesen Aspekt?
Das Stichwort ist im Titel enthalten, weil das Buch in einer Seelsorge-Reihe erschienen ist. Dargestellt wird aber die ganze Bandbreite der evangelischen Studierendenarbeit, und die ist ebenso vielfältig wie in anderen Gemeinden auch. Die Studierendenarbeit wird oft unter der Kategorie „Funktionspfarrstellen“ behandelt, aber das trifft es nicht wirklich. ESGn sind Gemeinden, nur eben an „anderem Ort“, in diesem Fall: im Umfeld von Universitäten und Hochschulen.
Welche Rolle spielt denn die Seelsorge bei Ihrer Arbeit?
Natürlich ist der Bereich Seelsorge und Beratung in unserer Arbeit sehr wichtig! Zu uns kommen ja junge Menschen, die gerade neu aufgebrochen sind und ihren Platz noch suchen, in der Kirche wie im Leben. Die haben viele Fragen, viel Gesprächsbedarf. Darüber hinaus bieten wir auch spezialisierte Seelsorge, etwa in der Begleitung internationaler Studierender. Ein weiterer wichtiger Bereich sind die Seelsorgeangebote für Medizinstudierende, die in den sogenannten „Prep-Kursen“ Leichen sezieren müssen. Gerade an der Stelle werden wir als Kirche auch von den Universitäten wahrgenommen und einbezogen.
In welchen Bereichen ist die evangelische Studierendenarbeit noch tätig?
Ökumene und interreligiöser Dialog sind wichtige Teile der Arbeit in den ESGn, ebenso die Arbeit mit Geflüchteten. Wir bieten Mentoring an und begleiten Lehramtsstudierende, die sich auf die Vokation vorbereiten, also auf ihre kirchliche Zulassung zum Religionsunterricht. Ein Bereich, der mir besonders wichtig ist, ist auch der des geistlichen Lebens – die Aufmerksamkeit dafür hat in den vergangenen 17 Jahren, seitdem ich als ESG-Pfarrerin gearbeitet habe, deutlich zugenommen.
Woran machen Sie das fest?
Die Vielfalt von Gottesdiensten und Andachten ist ganz klar gewachsen. Es gibt Liturgische Nächte, Dinnerchurch, Taizé-Gebete und Literaturgottesdienste. Auch meditative Angebote sind sehr gefragt.
Haben Sie eine Erklärung für diesen Trend?
Ich glaube, darin bildet sich eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung in einer Welt ab, die immer komplexer und unübersichtlicher wird: Wir beobachten da eine große Sehnsucht nach Spiritualität. In den ESGn verknüpft sich diese spirituelle Sehnsucht mit einem hohen gesellschaftlichen Engagement. Das ist nicht mehr so getrennt, wie es in den 1980er Jahren noch war.
Ist Corona auch ein Thema in dem Handbuch?
Nicht als eigenes Kapitel, aber es wird in den Artikeln natürlich immer mal wieder erwähnt. Während der Pandemie waren die ESGn eine wichtige Anlaufstelle für viele Studierende. Zum Teil hatten wir mit unseren Angeboten sogar eine größere Reichweite als sonst und wurden an den Hochschulen deutlicher wahrgenommen. Ich habe da eine enorme Kreativität erlebt: Gottesdiensttüten zu Ostern, Stationengottesdienste draußen, digitale Taizé-Andachten, aber auch Online-Krimidinners, -Kochabende oder -Podiumsdiskussionen. Sehr beliebt waren seelsorgliche Angebote wie „Walk and talk“. Dort, wo es einen großen Gottesdienstraum gibt, wurden ganz kontinuierlich Gottesdienste angeboten, auch während der Semesterferien. Das war für manche Studierende während der Lockdown-Phasen der einzige Anlass, das eigene Zimmer zu verlassen.
Wie haben die ESGn auf den Kriegsausbruch in der Ukraine reagiert?
Es wurden spontan Friedensgebete eingerichtet, die kontinuierlich zweimal die Woche mit großer Beteiligung gehalten werden.