Eine Jugendliche muss sich zwischen ihrer Sehnsucht nach Leben und den Wahnvorstellungen einer esoterischen Sekte entscheiden. Das packende Drama läuft am 22. Dezember zu später Stunde im ZDF.
“Jupiter” beginnt im kosmischen Blick auf die Erde. Mit Wolkenschleiern, sphärischer Musik und einer angenehmen Stimme aus dem Off. Die zählt in Sätzen von zehn bis eins einen Countdown herunter und scheint dabei direkt in die Körperverlorenheit von Hypnose und Meditation zu führen: “Zehn: Ihr konzentriert Euch allein auf meine Stimme. Neun: Eure Arme und Beine werden leichter und wärmer. Acht: Die Wärme dringt in Eure Körper. Sieben: Ihr spürt die Winde um Euch wehen. Sechs: Euer Geist befreit sich …”
Danach folgen im abrupten Schnitt Aufnahmen von einer Schaum-Party in einem Kellerlokal in Leipzig. Die Jugendlichen kennen sich von der Schule, tanzen und albern herum. Einige Mädchen machen sich in den Toilettenräumen zurecht. Sie necken sich gegenseitig und schwatzen über Mädchenkram: Liebeleien, Schminke, Klamotten, das Einsetzen der Menstruation, die den Eintritt ins Erwachsensein signalisieren soll.
Plötzlich drängt sich eine erwachsene Frau durch das brodelnde Treiben. Aus der sich vergnügenden Menge der Jugendlichen schält sich die Protagonistin von “Jupiter” heraus: die 14-jährige Lea (Mariella Aumann), definitiv nicht das It-Girl der Schule. Lea ist eher schüchtern und in Auftreten und Outfit unauffällig. Sie hat einige Schulfreundinnen, aber keine beste Freundin. Aus dem Gros der anderen sticht sie durch ihre teilweise eigenwilligen Ansichten heraus, die sie im Schulunterricht vehement verteidigt. So etwa ihre Theorie über die menschliche Evolution, die in ihren Augen nicht nur auf der Erde spielt.
“Wir müssen sofort los”, sagt die Frau (Laura Tonke), die sich als ihre Mutter entpuppt. Die verdatterte und schaumverzierte Lea setzt sich in das vor der Tür wartende Auto der Familie. Es geht südwärts, den Alpen entgegen. Neben Lea fährt auch ihr jüngerer Bruder Paul mit. Die Eltern haben ein paar Klamotten eingepackt. Sie hätten Lea zuhause erwartet, doch die Zeit drängt. Als Zuschauerin erfährt man vorerst so wenig wie Lea über den Grund des überstürzten Aufbruchs. Während eines Halts scrollt Lea auf einer Raststätte durch die SMS ihrer Freundinnen. “Bist du am Samstag mit dabei?”, fragen diese. Zudem steht eine wichtige Prüfung an, auf die man gemeinsam lernen möchte.
Bis die Mutter an der Toilettentür klopft und zu Eile drängt. Am Nachmittag des folgenden Tages parkt der Vater (Andreas Döhler) das Auto am Rande einer abgelegenen Landstraße; den Schlüssel platziert er beim Aussteigen auf dem Fahrzeugdach. Während es zu dämmern beginnt, steigt die Familie zu einer unterhalb des Gipfels liegenden Siedlung hoch. Es ist die abgelegene Residenz einer kosmischen Sekte, die den Ursprung der Menschheit auf dem Jupiter verortet und in den nächsten Tagen einen Kometen beobachten will. Leas Familie wird herzlich willkommen geheißen.
Erzählt wird weitgehend aus der Perspektive der 14-jährigen Protagonistin. Die Ereignisse der Gegenwart bilden dabei den roten Faden einer Geschichte, die sich durch fragmentierte Erinnerungsstücke zunehmend verdichtet und Lea schließlich vor ein abgründiges Dilemma stellt. In der zum Teil assoziativen Montage wechseln oft abrupt Ort und Zeit. Neben die Bilder des aktuellen Geschehens schieben sich interstellare Aufnahmen aus dem All und Szenen aus dem früheren Leben von Leas Familie. Die heiteren Momentaufnahmen aus ihrer Kindheit werden zunehmend durch Bilder verdrängt, welche die durch den Autismus ihres Bruders ausgelöste Überforderung der Eltern beleuchten.
In Erinnerung bleibt vor allem die eine Szene, in der ein Arzt den Eltern erklärt, dass Pauls Zustand nicht “heilbar” sei, sondern höchstens erleichtert werden könne. Es gibt also durchaus Gründe, warum die Eltern den kruden Versprechungen des charismatischen Sektenführers Wolf (Ulrich Matthes) Glauben schenken.
Das Geschehen auf dem Berg lässt sich als ein sich in den Topos eines “Locus amoenus” – also der Idylle eines lieblichen Ortes einschreibendes Schreckensszenario – charakterisieren, in dem sich Lea entscheiden muss, ob sie weiterhin ihren Eltern folgt oder ihre eigenen Wege zu gehen versucht. Es gibt wenige Filme, die das Reifen einer von ihrer Familie behüteten Jugendlichen zur eigenverantwortlichen Person derart präzise schildern wie “Jupiter”.
Dass diese Bewusstwerdung und Transformation einer Pubertierenden in eine junge Erwachsene gelingt, ist vor allem das Verdienst von Mariella Aumann, die Lea robust, aber zugleich auch verletzlich und sehr einfühlsam spielt. Leas Gehorsam gegenüber den Schutz und Geborgenheit sichernden Eltern steht dabei im krassen Gegensatz zu ihrem impulsiven Willen, das Leben auf der Erde nicht zu verpassen. Es ist ihre innere Zerrissenheit, die den Film menschlich groß werden lässt.
Denn hinter den schönen Bildern und den verheißungsvollen Worten des Gurus lauert der Horror eines Massenexodus. “Fünf”, heißt es im gegen Filmende wieder aufgegriffenen Countdown, “Wir lassen alles los. Vier: Wir lassen alles zurück. Drei: Wir lassen es zu. Zwei: Wir sind stark. Eins: Wir sind frei. Take off.”