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Jüdischer Friedhof in Guben: Pfarrer Michael Domke bewahrt Gräber und Geschichten seit 50 Jahren

Seit 1966 läuten die Friedensglocken auf dem jüdischen Friedhof in Guben – als Zeichen der Versöhnung mit Israel.

Historischer jüdischer Friedhof in Guben mit den noch erhaltenen Grabsteinen, die Michael Domke seit den 70er-Jahren pflegt
Historischer jüdischer Friedhof in Guben mit den noch erhaltenen Grabsteinen, die Michael Domke seit den 70er-Jahren pflegtSusanne Atzenroth

Auf dem jüdischen Friedhof in Guben lebt seit den 70er-Jahren Michael Domke, Pfarrer im Ruhestand. Bis 1937 wurden hier etwa 200 Menschen bestattet, 137 Grabsteine sind heute noch erhalten. Michael Domke kennt ihre Gräber und Geschichten. Er pflegt den Friedhof und läutet die Glocken, täglich außer sonntags.

Nur wenige Schritte braucht Michael Domke zum eisernen Glockenstuhl, bevor er die Seile zum Läuten ergreift. Seit fast 50 Jahren wohnt der Pfarrer im Ruhestand direkt auf dem jüdischen Friedhof von Guben. „Ächad, sch(e)najim, sch(e)loschah“ – bis 90 zählt Michael Domke auf Hebräisch, wenn er die Glocken mit zwei Seilen rhythmisch zum Klingen bringt. „Ein Doppelschlag dauert etwa zwei Sekunden“, erklärt er, nachdem er den Gehörschutz abgenommen hat. Pünktlich um 18 Uhr erklingt von Montag bis Samstag das Friedensgeläut vom Hügel über dem Neißetal – seit 1966. Diese Jahreszahl ist auf einer der beiden Glocken eingeprägt, die im freistehenden Metallgerüst zwischen den Grabstellen aufgehängt ist. Die andere trägt die Inschrift „Schalom al Jisrael“.

Noch 137 Grabsteine erhalten

1839 hatte die kleine jüdische Gemeinde Gubens das Gelände außerhalb der damaligen Stadtgrenze gekauft, um dort einen Friedhof anzulegen. Bis 1937 wurden dort etwa 200 Menschen bestattet. Davon sind heute noch 137 Grabsteine erhalten. Zwischen 1933 und 1945 war der Friedhof mehrfach zum Ziel nationalsozialistischer Zerstörungswut geworden. Der auf der Trauerhalle krönende Davidstern wurde entfernt und der gesamte Friedhof nach seiner Schändung während der Pogromnächte 1938 dem Dorf Reichenbach übertragen.

Infolge der Kriegshandlungen kam es im Frühjahr 1945 zu weiteren Zerstörungen am Grabmalbestand. 1951 setzte sich der damalige Superintendent der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Otto Dibelius, dafür ein, dass der von den Nationalsozialisten enteignete Friedhof an den Verband Jüdischer Gemeinden zurückgegeben wurde.

Alle Gräber sind dokumentiert

In einem Vertrag vereinbarten der Verband und die Evangelische Kirchengemeinde, dass der Friedhof durch die Evangelische Kirche fortan gepflegt wird. Im Gegenzug durfte die nicht mehr für Beerdigungen benötigte Trauerhalle als „Bergkapelle Reichenbach“ für Gottesdienste sowie die Wohnung des Friedhofswärters vom Pfarrer genutzt werden, berichtet Domke. 1966, noch vor seiner Amtszeit, ließ die Kirchengemeinde die Glocken aufstellen und im Jahr 2000 einen Gedenkstein errichten. Dieser erinnert an die jüdischen Mitbürger Gubens, die verfolgt, vertrieben, verschleppt und ermordet worden. Er markiert gleichzeitig die Stelle der letzten Beisetzungen, bei denen keine Grabsteine mehr gesetzt werden konnten. Die Namen und Lebensgeschichten der Verstorbenen sind Michael Domke vertraut. Alle noch vorhandenen Inschriften hat er übersetzt und dokumentiert.

Eine Besonderheit jüdischer Grabsteine, erklärt Michael Domke, sei die doppelseitige Beschriftung: auf der einen Seite der Name und die Lebensdaten nach deutscher Tradition, auf der anderen eine Beschreibung nach jüdischer Tradition. Diese enthält oft eine kleine Lebensgeschichte und den jüdischen Namen, der auch den Namen des Vaters nennt, weiß Domke. So heißt es auf dem Grabstein eines 1858 Verstorbenen: „Hier liegt begraben ein Mann, der wandelte auf dem Weg der Väter und er war aufrichtig und nicht war zu finden Unrecht in ihm.“Die Inschrift einer im November 1873 Verstorbenen beginnt so: „Hier liegt begraben eine starke Frau, gelobt und verherrlicht im Tor, Tochter von Rabbinen, lobenswert in ihrer Gerechtigkeit und Ehre.“

Nicht fehlen dürfen auf allen Grabsteinen die Bibelworte „Ihre Seelen seien eingebunden in den Bund des Lebens“ nach 1. Samuel 25,29, darauf weist Michael Domke hin. Gerne erläutert der Pfarrer die Worte in hebräischer Sprache, die er seit seinem Studium liebt. Jeden Tag liest er ein Kapitel der Hebräischen Bibel im Originaltext. Auch singt er hebräische Texte, besonders gern Psalmen.

Besucher kommen auch aus Israel

Michael Domke konnte gerade sein 50-jähriges Ordinationsjubiläum feiern. Die gesamte Zeit seines Pfarrdienstes hat er in Guben geleistet. Er kam 1972 als Vikar und trat anschließend eine von seinerzeit fünf Pfarrstellen in der Neißestadt an. Auch jetzt im Ruhestand blieb er dort wohnen, wo er seit den 70er-Jahren lebt: in der ehemaligen Friedhofsgärtnerwohnung, gleich hinter der Bergkapelle auf dem jüdischen Friedhof.

Die Kapelle ist immer die letzte Station für Besuchergruppen, die Domke über den Friedhof führt. Sie kommen aus Schulen in Guben, aus dem nahen Polen oder manchmal auch aus Israel. Dann singt er mit ihnen auf Hebräisch – und erlebt oft bewegende Momente. Für evangelische Gottesdienste wird die Kapelle inzwischen nur noch wenige Male im Jahr genutzt, darunter zum Pogromgedenken am 9. November. Ihre Kuppel ziert seit 1992 wieder der Davidstern und am Eingang ist eine Mesusa angebracht.

Gedenken trotz Vandalismus

Auch der 2000 errichtete Gedenkstein trägt nach Domkes Übersetzung die Inschrift auch in hebräischer Sprache. Sie lautet: „So spricht der Herr, der König Israels, und sein Erlöser, der Herr Zebaoth: Ich bin der Erste, und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott. Ich habe dich bereitet, dass Du mein Knecht seist. Israel, ich vergesse Dich nicht!“ (Jesaja 44,6+2b). Nach der Errichtung des Gedenksteins und der damit verbundenen medialen Aufmerksamkeit sei es zu Schändungen auf dem Friedhof gekommen, erinnert sich Domke. Die Jugendlichen, die damals für die antijüdischen Schmierereien an Grabsteinen, Friedhofsmauer und Trauerhalle verantwortlich waren, habe man gefasst und verurteilt, so Domke. „Einer von ihnen hat dann seine Stunden hier auf dem Friedhof geleistet. Dabei gab es gute Gespräche und schließlich hat er seine Tat bereut“, berichtet der Pfarrer.

Der abgelegene Ort außerhalb der Stadt und die von Bäumen verdeckte Zufahrt seien sicher auch ein Grund für die zum Glück wenigen Überfälle, so Domke. Lange wurde das Läuten wechselnd von Mitgliedern der Kirchengemeinde übernommen. Seit vielen Jahren ist es nun Michael Domke, der die Glocken zu ihrem Friedensruf bewegt. Die Pflege des Friedhofs erfolgt ehrenamtlich, auch Domke nimmt sich neben den festen Läuteterminen immer wieder ein Stündchen Zeit dazu. Nur einen freien Tag in der Woche gönnt er sich. Am Sonntag wird nicht geläutet, der Tag bleibt ihm „als Glocken-Schabbath“, wie er sagt, zum Erholen oder für die Fahrt zu den Enkelkindern nach Berlin.