Es ist wieder Wahlkampf. Da kochen manchmal die Gefühle hoch. Proteste, Wut, Zorn und am Ende Enttäuschung oder Jubel – all das gibt es auch in der Politik. Warum und wann sich derartige Gefühle Bahn brechen, hat der Historiker Bernhard Gotto untersucht: in seiner im vergangenen Jahr an der Ludwig-Maximilians-Universität in München eingereichten Habilitation „Enttäuschung in der Demokratie. Eine Erfahrungsgeschichte der Demokratie in der Bundesrepublik während der 1970er und 1980er Jahre“. Im Gespräch mit Joachim Heinz blickt der Mitarbeiter des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin auf Vergangenheit und Gegenwart. Und erläutert, welcher rhetorische „Klassiker“ im Bundestagswahlkampf das größte Enttäuschungspotenzial birgt.
Herr Gotto, die AfD wird immer wieder als „Partei der Enttäuschten“ bezeichnet. Ist das neu, dass eine größere gesellschaftliche Gruppe in der politischen Debatte Enttäuschung formuliert und entsprechende Aufmerksamkeit erfährt?
Um diese Frage zu beantworten, müsste man zunächst erst einmal genauer hinschauen, ob diese Zuschreibung stimmt. Enttäuschung resultiert aus nicht erfüllten Erwartungen. Das trifft womöglich auf einen Teil der AfD-Anhänger zu, aber sicher nicht auf alle.
Was also ist die AfD dann aus Ihrer Sicht?
Die AfD würde ich als Protestpartei bezeichnen. Protest kann sich aus Enttäuschung speisen, aber beispielsweise auch aus Wut oder Empörung. Die vielen gescheiterten Parteineugründungen der Vergangenheit zeigen aber auch: Solche Gefühle allein reichen für eine dauerhafte politische Präsenz nicht aus. Da braucht es schon ein wenig mehr.
Wenn wir auf die Geschichte der Bundesrepublik schauen – gibt es da besondere Ereignisse, in denen sich Enttäuschung auf politischer Ebene manifestiert hat?
Enttäuschung gehört zum demokratischen Wettbewerb dazu. Schließlich gibt es ständig widerstreitende Interessen, die nicht alle befriedigt werden können. Da bleibt also immer jemand auf der Strecke.
Aber?
„Das“ singuläre Ereignis im Sinne einer Erfahrung, die sich quer durch alle Parteien zieht, kann ich nicht erkennen. Auf konservativer Seite war es vielleicht das gescheiterte Misstrauensvotum gegen den sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt 1972; aufseiten der Grünen die Niederlage der „Fundis“ gegen die „Realos“ in den 1980er Jahren. Für viele Ostdeutsche war es bitter, sich nach der Wiedervereinigung als Menschen zweiter Klasse zu fühlen.
Trotzdem, und das zeigen auch Ihre Forschungen, gab es große Debatten mit hochfliegenden Erwartungen – und anschließend mitunter harter Landung in der Realität. Für die 1970er und 1980er Jahre wären etwa die Mitbestimmung in den Unternehmen, die Gleichberechtigung der Frauen oder der Umweltschutz zu nennen. Wie ist die Politik damit umgegangen?
Da ändert sich all die Jahre hindurch relativ wenig. Man versuchte, die Debatten zu entemotionalisieren, sie zu versachlichen oder sie abzuwiegeln. Politiker bemühten sich um ein nüchternes Erscheinungsbild. An große Gefühle zu appellieren, war eher tabu.
Warum?
Das verbot sich aus der Verarbeitung der Erfahrungen aus der NS-Zeit. Das nationalsozialistische Regime wurde gedeutet als eine gigantische Verblendungsmaschinerie, die in besonders perfider Weise an die Emotionen der Menschen appellierte.
Heute befeuern das Internet und die Sozialen Medien die Debatte – ging es früher „gemütlicher“ zu?
Sicher haben die neuen Medien zu einer enormen Beschleunigung und Vervielfältigung ge-führt. Heute läuft die Kommunikation zwischen Politikern und den übrigen Bürgern viel direkter und ungefilterter ab. Aber ob es, vor allem in der Wahrnehmung der unmittelbar Beteiligten, früher gemütlicher zuging? Da habe ich Zweifel.
Wieso?
Die gleiche Frage hätte man in den 1980er Jahren stellen können, als das Massenmedium Fernsehen auf dem Zenit stand. Menschen, die sich bis dahin eher selten öffentlich artikulierten, hat-ten plötzlich einen neuen Raum, dies zu tun. Der Blick zurück zeigt zugleich: Die Politik konnte sich auf einen solchen Wandel bisher eigentlich immer ganz gut einstellen.
Früher äußerten die Bürger ihre Befindlichkeiten per Brief, dann im Fernsehen, heute im Internet. Sind die Emotionen stärker geworden?
Nein, im Großen und Ganzen nicht – nur eben unmittelbarer. Aber wenn Sie beispielsweise Talkshows ansehen, dann können Sie feststellen, dass der Umgang mit Emotionen unbefangener geworden ist, dass auch Politiker leichter über Gefühle sprechen – eigene und kollektive.
Welches Thema des aktuellen Bundestagswahlkampfs hat Ihrer Ansicht nach das größte Enttäuschungspotenzial?
Ein echter Klassiker, Stichwort „Politikverdrossenheit“. Seit den 1950er Jahren kehrt die Klage immer wieder, dass sich „die da oben“ vom „kleinen Mann da unten“ entfernt hätten, seine Spra-che nicht mehr sprechen.