Moderatorin Jessy Wellmer reist durchs Land – und spürt dem Konflikt zwischen progressiven und konservativen Bewegungen nach. Prominente Stimmen und exklusive Umfragen zeigen, wie gespalten Deutschland sich fühlt.
Einmal im Jahr verlässt Moderatorin Jessy Wellmer die “Tagesthemen”-Redaktion, um persönlich die Themen in Deutschland zu recherchieren, über die ansonsten das Nachrichtenjournal im Ersten berichtet. 2022 hieß die Reportage “Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen”, ein Jahr darauf “Machen wir unsere Demokratie kaputt?”. Am kommenden Montag lautet die Fragestellung zur Primetime: “Wie zerrissen ist Deutschland? Der Streit um Werte, Meinung und Macht”.
Die Dramaturgie der Reihe ist bewährt: Gemeinsam mit Regisseur Dominic Egizzi fährt Wellmer landauf, landab, um im Gespräch mit Prominenten und “Normalos” die Eingangsfrage zu beantworten. Wie gewohnt werden die Gespräche durch exklusive Umfragen von Infratest dimap ergänzt, die das individuelle Meinungsbild mit einer repräsentativen Perspektive hinterfragen. Was denkt der Einzelne, was denkt die Mehrheit in Deutschland?
In der kommenden Reportage geht Wellmer von der These aus, dass es eine veritable Gegenbewegung zu bisher bevorzugten Werten und Haltungen gebe, dass neuer Konservatismus eine progressive Strömung ablöse. Waren Klimaprotest, Gendern und Diversität lange Trendsetter, so heiße es jetzt: Keine Regenbogenfahne auf dem Reichstag, keine Diversitätsprogramme mehr in den Wirtschaftsunternehmen, Schluss mit Bevormundung. Fest steht: Es kommt zu Reibungen, zu Spannungen.
Der queere Entertainer Riccardo Simonetti berichtet, dass ihm “die unmenschlichsten Dinge” geschrieben würden. Beleidigungen seien salonfähig geworden, die Angst vor Queer-Feindlichkeit gewachsen. Simon Usifo, Geschäftsführer des deutschen Ablegers der Werbeagentur BBDO, sagt, dass Unternehmen weniger auf das Thema Diversität setzen: “Dieses Bekenntnis zur Vielfalt und Stärke wird zurückgedreht. Das ist jetzt schon ein kritischer Moment, ein Scheideweg.”
Weitere Gesprächspartner sind die Chefin des Balletts der Arbeiterwohlfahrt in Mannheim, dem auf der Bundesgartenschau ein Auftritt mit Sombrero, Kimono- und Flamenco-Kostümen verboten worden war – kulturelle Aneignung, lautete der Vorwurf. Dazu kommt der parteilose Kultur- und Medienstaatsminister Wolfram Weimer. Er warnt, dass die Demokratie in Deutschland vor allem von rechts unter Druck gerate: “Wir haben eine fundamentale Verschiebung, wir haben einen Achsbruch unserer Gesellschaften. Autoritarismus ist die neue Bedrohung unserer Generation”, so Weimer.
Schließlich berichtet die Vorsitzende eines Vereins in Bautzen, der demokratiefördernde Projekte betreibt, wie der Kreistag mit der AfD als größter Fraktion und der CDU-Landrat die Fördergelder zusammenstrich. Bei allen Aussagen und Berichten sticht heraus, wie offen die Menschen sich der Reporterin gegenüber gezeigt haben. Offenbar wird Wellmer als unvoreingenommene Gesprächspartnerin wahr- und ernstgenommen. Die Journalistin hört zu, sie will wissen. Das stärkt die Glaubwürdigkeit der 45 Minuten.
Erschrecken oder erfreuen können – je nach eigener Position – die Umfrageergebnisse, etwa: “Nimmt unsere Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Minderheiten?” Bei “zu viel” stimmen 45 Prozent zu, “zu wenig” sagten 26 Prozent, der Rest gab “gerade richtig” zur Antwort. Die Hälfte stimmte der Aussage zu, man könne in Deutschland seine Meinung äußern, ohne dadurch ernsthafte Nachteile zu haben, 46 Prozent sahen das anders.
Offenkundig sind “die Deutschen” keine homogene Meinungsmasse, sondern haben verschiedene Ansichten, Überzeugungen und Haltungen. Sie scheinen aktuell aber konservativer zu sein als noch vor einigen Jahren – und je nach Parteipräferenz auch radikaler. So erklären 85 Prozent der AfD-Anhänger, es gebe eine zu große Rücksichtnahme auf Minderheiten; bei Grünen-Nahen sind es acht Prozent.
Vielleicht lässt sich aus der Reportage der Schluss ziehen, dass die Vokabel “zerrissen” die Realität dann doch nicht so genau abbildet. Das Panorama aus individuellen und repräsentativen Meinungen zeigt durchaus eine plurale Gesellschaft; Überzeugungen stehen nebeneinander und einander gegenüber. Selbst wenn sie unversöhnbar sind und als unangenehm erlebt werden – eine Mehrheit von 58 Prozent sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt als “eher schlecht” -, so muss das noch kein Alarmzeichen sein – es sei denn, diese Gegensätze steigern sich zum Krisenfall, zur Gewalt.
Von körperlicher Gewalt berichten die Gesprächspartner zwar nicht, wohl aber von verbaler oder indirekter Gewalt. Der Streit um die Meinungen werde oft hinterrücks oder mit Macht und mit Geld ausgetragen. Die Streitkultur hat erkennbar gelitten, das wird in dem Film mehr als deutlich. Die Reportage will weder Emotionen schüren noch urteilen. Zeigen, was ist – das ist die kluge Prämisse für den 45-Minuten-Film. Jessy Wellmer und Dominic Egizzi könnten gerne häufiger als nur einmal im Jahr den Puls des Landes fühlen.