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“Jedes Präparat ist einzigartig”

Den Anfang macht ein Herz. Ein echtes menschliches Herz, das einmal in einem Körper geschlagen hat und nun ein Anschauungsobjekt ist. Um die Vitrine herum schweben Fragen wie: Warum macht man das? Wäre ich damit einverstanden? Das plastinierte Herz bildet den Auftakt zur Jahresausstellung „Ansichtssache. Menschliche Präparate im Museum“, die ab diesem Donnerstag (3. April) im Deutschen Medizinhistorischen Museum in Ingolstadt zu sehen ist.

Gezeigt werden Körperteile, die der medizinischen Forschung und Lehre dienen. Sie entstammen Leichnamen, die seziert wurden – eine seit Jahrhunderten etablierte Praxis. So entstanden große anatomische und pathologische Lehrsammlungen an Universitäten. Nun sei die Frage: „Was davon wollen wir zeigen? Und wie wollen wir es zeigen?“, sagt Udo Andraschke, der die Stabsstelle Sammlungen und Museen an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg leitet. Das Konzept hat er gemeinsam mit Marion Ruisinger und ihrem Ingolstädter Museumsteam sowie dem Medizinhistoriker Thomas Schnalke aus Berlin entwickelt.

Die Ausstellung will die Besuchenden mitnehmen auf eine Reise der Reflexion darüber, wie mit menschlichen Überresten umzugehen ist. „Wir wollen keine Schaulust bedienen, sondern zum Nachdenken anregen“, sagt Andraschke. Darum seien alle Präparate in Themeninseln geordnet, in denen sie in andere Zusammenhänge gebracht werden und es um Fragen geht wie etwa: Wer war der Mensch, in dem das Herz einst schlug? Woher kommen die Leichen? Braucht man Präparate heute noch für Lehre und Forschung?

„Ja, braucht man“, sagt Andraschke, der sich mit dem Verhältnis von analogen und digitalen Lehrmethoden beschäftigt. Zwar gebe es 3D-Modelle aus Kunststoff, und die heutigen Computermodelle seien dank neuester Bildverarbeitungstechnologien höchst präzise. Doch Präparate hätten auf Medizinstudierende eine andere Wirkung, und diese lernten auch weiter, echte Leichen aufzuschneiden. „Wir sind sinnliche Menschen“, so der Wissenschaftshistoriker. „Es kommt auf die richtige Mischung analoger und digitaler Welten an.“

Auch die Forschung hat sich verändert. Zwischendurch schienen Präparatesammlungen bedeutungslos zu werden, und viele Hochschulen verbannten sie in die Keller, wo das organische Material kaputtging. „Es ist viel abhandengekommen“, sagt Andraschke. Dabei sollten Bestände nicht voreilig „entsammelt“ werden, sagt er: Oft könnten sie aufgrund neuer wissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden wieder relevant werden.

Die ethische Frage, wie mit menschlichen Überresten umzugehen ist, wird seit einigen Jahren über die Fächergrenzen hinweg stark diskutiert. Die einen fordern laut Andraschke, die Institutionen sollten transparent machen, was sie haben. Die Gegenseite argumentiert, dass sowas nicht mehr gezeigt werden sollte. Richtlinien gibt es nicht, nur Empfehlungen, etwa vom Deutschen Museumsbund.

Dass Präparate aus Unrechtskontexten nicht ausgestellt gehören, ist unumstritten. Dazu zählen solche aus der Zeit des Nationalsozialismus, des SED-Regimes oder aus kolonialen Sammlungen, weil sie im Zusammenhang mit Verbrechen oder diskriminierender Rassenforschung entstanden sind. Doch generell gab es bis in die 1960er-Jahre fast ausnahmslos keine Einwilligung zur Körperspende. Die Leichen etwa von armen Menschen, Häftlingen oder nach Suiziden kamen meist ungefragt in die Anatomie, wo sie seziert und einige Teile präpariert wurden. Laut Andraschke fragen sich heute einige, ob das nicht als ein erweiterter Unrechtskontext anzusehen ist.

Die rund 100 Präparate in der Ausstellung stammen nicht aus eindeutigen Unrechtskontexten, aber teilweise von Menschen, die ihre Zustimmung entsprechend der damaligen Rechtspraxis nicht erteilt haben. Die Exponate kommen hauptsächlich aus vier Lehrsammlungen: der Humboldt-Universität in Berlin, der Charité in Berlin, der München Klinik Schwabing und der FAU Erlangen-Nürnberg, die – neben dem Leibniz-Institut für Wissensmedien Tübingen – als Kooperationspartner fungiert.

Heute gilt bei Körperspenden die Zustimmungspflicht in einer letztwilligen Verfügung. Laut Anatomieprofessor Andreas Winkelmann von der Medizinischen Hochschule Brandenburg ist dies der „Goldstandard“ im anatomischen Umgang mit dem Leichnam. Dennoch könne nicht mit heutigen ethischen Maßstäben über das damalige Handeln geurteilt werden. Der individuellen Selbstbestimmung werde heute ein höherer Wert beigemessen, schreibt Winkelmann in einem Aufsatz.

Bei Präparaten bleibe eine Mehrdeutigkeit: Einerseits seien sie ein totes, materiales Objekt und dienten so der Wissenschaft. Andererseits hätten sie einen Bezug zu einer Person und seien Teil einer Lebensgeschichte. Dies mache es notwendig, sie anders zu behandeln als Ausstellungsstücke wie eine Vase oder eine Münze. „Wir betrachten sie nicht mehr als reine Wissensobjekte“, sagt Andraschke. Sie seien auch historische Zeugnisse: „Jedes Präparat ist einzigartig“, hinter jedem stehe ein verstorbener Mensch.

In Deutschland gilt die Rechtsauffassung, dass die Würde des Menschen über den Tod hinaus schützenswert ist. Aus christlicher Sicht sollte beim Umgang mit menschlichen Gebeinen die Pietät als Haltung des Respekts im Vordergrund stehen, schreibt der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, in einem Aufsatz.

Erst die noch junge Provenienzforschung macht es möglich, auch die subjektive Geschichte eines Objekts zu rekonstruieren. Wie man ein Präparat und seine öffentliche Präsentation bewertet, hängt laut Winkelmann von der jeweiligen Kultur und vom allgemeinen Umgang mit den Toten ab – und davon, ob in unserer Sicht der individuelle oder objektive Aspekt des Präparats überwiegt. Entscheidend sei es, beide Geschichten zu erzählen.

Dabei geht es auch um die innere Haltung. Die „Körperwelten“-Ausstellungen des Anatomen Gunther von Hagens haben laut Andraschke zwar auch einen didaktischen Anspruch, bedienten aber vor allem Attraktion und Schaulust. Stattdessen, sagt er, solle besser das Erkenntnisinteresse im Vordergrund stehen, die reflektierte Neugier. So sollten Besucher etwa beim Betrachten eines Organs nicht nur anschaulich lernen, welche Krankheit es so zerfressen hat, sondern auch, dass dahinter ein Mensch und seine Leidensgeschichte stehen.

In der Schau werden die Besuchenden nach ihrer Meinung gefragt, ob und wie solche Präparate ausgestellt werden sollten. Mit einer solchen fragenden Haltung sollten laut Andraschke „alle Ausstellungen heutzutage arbeiten“. (xxxx/01.04.2025)