Alle Jahre wieder schallen Weihnachts-Songs wie „Let it Snow“ oder „Winter Wonderland“ durch die Läden. Ein Entkommen scheint kaum möglich: Beim Warten auf die Bahn tönt das weihnachtliche Geklimper aus einem Lautsprecher, abends vor dem Fernseher hält in einem Werbespot „Jingle Bells“ Einzug ins Wohnzimmer, und im Supermarkt säuselt es: „Feliz navidad“. Irgendwann spielt das Unterbewusstsein verrückt und schleust ungewollt einen Ohrwurm in die eigenen vier Wände ein.
Zwar kein Radio-Hit, aber auch eine Art Oldie und sehr beliebt ist Bachs Weihnachtsoratorium. Das rund 300 Jahre alte Werk hat in der Adventszeit einen festen Platz in Kirchen und Konzerthäusern. Allein in Berlin wurde es im vergangenen Jahr etwa 60 Mal aufgeführt. Der Potsdamer Musikwissenschaftler Christian Thorau hat sogar den Eindruck, dass es tendenziell mehr Aufführungen gibt – und das, obwohl umgekehrt immer weniger Menschen in die Kirche gehen.
Woran könnte das liegen? Thorau sieht den rituellen Charakter der Aufführungen als entscheidenden Grund. Das sei eine spezifisch deutsche Tradition, die es in anderen Ländern so nicht gebe, sagt der Musikwissenschaftler. Über die Gründe lasse sich allerdings nur spekulieren, belastbare Informationen fehlten.
Auf der Suche nach den Hintergründen befragte der Wissenschaftler Konzertbesucher im Anschluss an eine Aufführung des Weihnachtsoratoriums nach ihrer Motivation. Für 43 Prozent stand demnach der gemeinsame Besuch mit Familie und Freunden im Vordergrund. Direkt dahinter folgte mit 39 Prozent das Interesse an der Musik. An dritter Stelle nannten Besucher den Aspekt „weil es zur Weihnachtszeit dazugehört“. Rituelles, soziales und musikalisches Interesse scheinen Hand in Hand zu gehen.
Wie das Weihnachtsoratorium stehen auch die Oper „Hänsel und Gretel“ oder das „Nussknacker“-Ballett traditionell um Weihnachten herum auf den Spielplänen. Und ein neues Ritual ist in den letzten Jahren hinzugekommen: Das gemeinsame Singen von Advents- und Weihnachtsliedern ohne vorheriges Proben. Schon lange gibt es diese Tradition in den Kirchen, wo in der Advents- und Weihnachtszeit auch außerhalb von Gottesdiensten zum Singen eingeladen wird. Inzwischen hat das Format die Mauern der Kirchen überwunden und sich in Theatern, auf Marktplätzen oder in Fußballstadien als „Rudelsingen“ etabliert. Zwar erklingen bei solchen Veranstaltungen – etwa auf dem Prinzipalmarkt in Münster, im Stadion von Borussia Dortmund oder in der Detmolder Stadthalle – nicht nur christliche Weihnachtslieder. Aber das eine oder andere ist auf jeden Fall dabei.
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„Jauchzet, frohlocket“ statt „Let it Snow“
Klassische Musik und gemeinsames Singen zieht Besucher zu Weihnachten in die Kirche
