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Israel und Gaza – Wenn Heilung Lichtjahre entfernt scheint

Die Terrororganisation Hamas hat am Montag die letzten lebenden Geiseln freigelassen. Der Gazastreifen ist verwüstet. Israelis und Palästinenser haben tiefsitzende seelische wie körperliche Verletzungen. Wie weiter?

Bei einem Krieg gibt es nur Verlierer – unermessliches Leid nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel und als Reaktion ein fast komplett zerstörter Gazastreifen. Zahlreiche Menschen auf beiden Seiten dürften traumatisiert, also körperlich oder seelisch verletzt sein.

Heute weiß man, dass Betroffene unter einer sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden können. Ein Trauma kann – muss aber nicht – entstehen, wenn jemand von einem unerwarteten, bedrohlichen Ereignis betroffen ist, über das er keine Kontrolle hat.

Heute ist die Sensibilität dafür gewachsen. Inzwischen werde der Begriff “Trauma” allerdings auch in ganz banalen Zusammenhängen benutzt, kritisiert der Psychiater Frank Schneider in seinem Buch “Das erschütterte Ich”. In Deutschland sind etwa zwei bis drei Prozent der Menschen von dieser Erkrankung betroffen, unter Kriegsüberlebenden sind es mehr, etwa im Sudan an die Hälfte der Bevölkerung. Der Therapeut und Wissenschaftler schätzt, dass etwa 20 Prozent der israelischen Geiseln an einer Traumafolgestörung leiden könnten.

Ein klassisches Symptom ist das unkontrollierbare Wiedererleben dieser vergangenen Realität (“Flashbacks”), das häufig durch äußere Reize ausgelöst wird, etwa einen Geruch. Betroffene schwitzen mitunter scheinbar aus dem Nichts heraus, sind fahrig und angespannt, Blutdruck und Puls steigen an. Nach dem Ersten Weltkrieg sprach man von “Kriegszitterern”, erklärt Schneider. Erkrankte mieden zudem Situationen, die mit dem ursprünglichen Ereignis verbunden sind.

Also: Je schlimmer eine Erfahrung, desto heftiger die Posttraumatische Belastungsstörung? Dieser These widerspricht Schneider. Ein enges soziales Netz ist laut dem Experten der wichtigste Schutzfaktor: Nach einer existenziellen Erfahrung sei es wichtig, mit jemandem zu sprechen. “Das muss aber zunächst keine professionelle Hilfe sein. Die eigenen Eltern oder ein guter Freund sind ebenso gut – nur schweigen ist schlecht.”

Die persönliche Traumabewältigung ist das eine. Wie aber kann eine Gesellschaft – wie jetzt in Israel und im Gazastreifen – damit umgehen, dass sie als Ganzes verwundet wurde? Mit dieser Frage befasst sich die amerikanische Resilienztrainerin Carolyn Yoder. In ihrem Buch “Heilsam mit traumatischen Erlebnissen umgehen” stellt sie das interdisziplinäre STAR-Training vor; es steht für “Strategien zur Traumawahrnehmung und Resilienz”.

Entwickelt wurde es nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und ergänzt um Erfahrungen aus der Friedensarbeit in Krisengebieten weltweit. Hilfe zur Traumabewältigung könne es auch niederschwellig und außerhalb von Therapiezimmern geben, schreibt Yoder. Wie Schneider setzt auch sie auf den Austausch mit Familie, Freunden und anderen Betroffenen.

Ein solches sozialen Netz hilft aus ihrer Erfahrung dabei, das Erlittene zu benennen, anzuerkennen und zu betrauern. Gebe es diese Möglichkeit nicht, könne es im schlimmsten Fall zu einer körperlichen und seelischen Erstarrung und einer Distanzierung vom Erlebten kommen. Wird die durch das Trauma eingefrorene Energie nicht freigesetzt – etwa durch Weinen oder Zittern – oder unterdrückt, könne sie sich in Wut und Rachsucht verwandeln. Das Opfer kann dann selbst zum Aggressor und der destruktive Kreislauf neu befeuert werden.

Zum anderen wird laut Yoder ein nicht aufgearbeitetes Trauma “von Generation zu Generation in Familien, Gemeinschaften und Nationen weitergegeben”. Die Epigenetik habe herausgefunden, dass die menschlichen Gene neben der DNA auch eine “Erinnerung an die Erfahrungen unserer Vorfahren” in sich tragen. Diese Art emotionaler Prägung wirke sich auf mehrere Generationen aus. Die Autorin zitiert den Franziskaner Richard Rohr: “Schmerz, der nicht verwandelt wird, wird weitergehen.”

Neben Gesprächen im geschützten Raum könnten auch kreative Elemente wie Kunst, Musik, Tanz und Schreiben bei der Aufarbeitung helfen, rät Yoder. Ebenso könnten Massage und andere Formen von Körperarbeit das durch Traumawunden hyperaktive Nervensystem entspannen; dies könne in Gemeinschaftseinrichtungen gelehrt und von jedem praktiziert werden.

Auch wenn es nahezu unmöglich scheinen mag: “Wir können die Entscheidung treffen, uns dem Trauma zu stellen und unser Leiden umzuwandeln, so dass es uns stärker macht, sogar zu einem Geschenk an die Welt wird”, zeigt sich Yoder überzeugt.

Zugleich sei Trauma-Heilung ein langwieriger Prozess. Yoder wirbt dafür, auch die Geschichte des Gegenübers zu sehen und zu verstehen – ohne diese gutheißen zu müssen. Vergebung sei eine bewusste Entscheidung: nicht als Verzicht auf Gerechtigkeit, sondern als Möglichkeit, “sich von dem Gift der Bitterkeit zu befreien”. Die Psychotherapeutin zeigt sich überzeugt, dass dann jeder verletzte Mensch Wege finden kann, “eine Zukunft zu schaffen, die anders ist als die Vergangenheit”.