Von Ronald Gerste
NEW YORK – Für die meisten ging mit dem Anblick der Freiheitsstatue vor New York ein Traum in Erfüllung. Freiheit, Wohlstand, ein neues Leben – all das versprach die Frau mit der Fackel den zumeist aus Europa stammenden Neuankömmlingen. Den Boden des verheißenen Landes betraten die Einwanderer indes nicht auf Liberty Island, dem Standort der Freiheitsstatue, sondern auf einem anderen Inselchen in Sichtweite der Südspitze Manhattans: Ellis Island. Hier entschied sich ab dem 1. Januar 1892 das Schicksal von mehr als zwölf Millionen Neuankömmlingen. „Insel der Hoffnung“ hieß sie bei den einen, für jene allerdings, denen der Eintritt ins gelobte Land verwehrt wurde, war es die „Insel der Tränen“.
Für einige war Ellis Island die „Insel der Tränen“
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwoll der Strom der vorwiegend aus Europa kommenden Menschen an, die von einem besseren Leben träumten und/oder das Dasein in einer Klassengesellschaft mit jenem in einer offenen Demokratie zu tauschen suchten.
Allein von 1881 bis 1885 kamen mehr als drei Millionen Menschen: aus dem zaristischen Russland, aus dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, aus Italien und aus Deutschland. Viele von ihnen strebten auch deshalb in die Neue Welt, weil sie ihren Glauben frei ausüben wollten, zum Beispiel die vor allem in Russland Pogromen ausgesetzten Juden.
New York war die wichtigste Eintrittspforte. Um Ordnung in das Chaos der von einzelnen Bundesstaaten geleiteten Einwanderungsbehörden zu bringen, plante die US-Regierung eine zentrale Erfassungsstelle. Ellis Island bot sich an: Wem man aus politischen oder medizinischen Gründen die Einreise verweigerte – der Check auf Krankheiten wie Typhus oder Cholera war meist der entscheidende Schritt –, der konnte von hier aus abgeschoben werden, ohne dass Gefahr bestand, dass die Abgewiesenen heimlich ins Land kamen.
Dass die Bundesbehörden ab 1890 die Immigration zentral regelten und dokumentierten, ist für Ahnenforscher ein Segen, denn etwa 40 Prozent der US-Amerikaner haben Vorfahren, die über Ellis Island ins Land gekommen sind.
Praktisch vom Eröffnungstag an herrschte Hochbetrieb auf Ellis Island. Am Neujahrstag 1892 legten drei Schiffe mit insgesamt 700 Einwandern an. Den Rekord sollte der 17. April 1907 halten, an dem 11 747 Einwanderer abgefertigt wurden. In der Inspektionsstation mussten die Einwanderer eine Reihe von Fragen beantworten. Eine der wichtigsten war die nach Bargeld. Die US-Regierung wollte sicher sein, dass sich die Neuankömmlinge zumindest die erste Zeit in ihrer neuen Heimat selbst würden versorgen können.
Im Schnitt dauerte die Überprüfung zwischen zwei und fünf Stunden; rund 98 Prozent der Ankömm-linge wurden akzeptiert. Sie konnten Ellis Island und ihre bisherige Vergangenheit hinter sich lassen und in Amerika einen Neuanfang beginnen.