Artikel teilen:

Ines Geipel – eloquente Chronistin der Nachwirkungen von DDR-Traumata

Möglicherweise bekommt sie am 17. Juni den renommierten Deutschen Sachbuchpreis. Ines Geipel ist mit “Fabelland” unter den Nominierten. Daneben schreibt sie auch Romane und Gedichte. Ihr Thema: Ostdeutschlands Traumata.

Ines Geipel ist eine der profiliertesten Stimmen der ostdeutschen Gegenwartsliteratur – eine Suchende, eine Aufklärerin, eine Chronistin der Brüche. Ihr Werk kreist um die großen, oft verschwiegenen Traumata Ostdeutschlands: den Missbrauch im DDR-Leistungssport, die Nachwirkungen des Nationalsozialismus, das anhaltende Schweigen in Familien und Institutionen – und um die Frage, wie sich daraus Sprache, Sinn und Zuversicht gewinnen lassen.

In ihrem jüngsten Werk “Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück” schaut die 64-jährige Geipel darauf, wie welche Geschichten sich Ost und West seit 1989 über das wiedervereinigte Deutschland erzählen. Nominiert ist das Werk für den renommierten Deutschen Sachbuchpreis. Die Preisträger werden am 17. Juni bekanntgegeben.

“Ich habe ja eine Herkunft, die ist sehr musisch: ein Vater, der alle Instrumente spielen konnte und komponiert hat, aber ich bin über den Sport erst einmal in eine andere Spur gegangen”, sagt die gebürtige Dresdnerin. Diese Spur führte sie als Leichtathletik-Leistungssportlerin tief ins System der DDR – bis zum Bruch. “Wenn man diesen Hochleistungssport – zumal zu DDR-Zeiten – ein paar Jahre gemacht hat, ist man natürlich leer.” Ihr Rausschmiss aus dem Sport wird zur Zäsur – und zum Anfang einer anderen Existenz.

“Ich hatte diese Sehnsucht, mich innerlich zu füllen. Und das eben möglichst über etwas Immaterielles – und das waren die Wörter.” Es ist ein existenzieller Wechsel: “Im Grunde ist es wie vom Ende der Welt zum anderen zu laufen. Vom Sport, der maximale Verzweckung ist, ein Angriff auf den Körper, auf die innere Apparatur, die Seele in den Raum der Literatur zu gehen, wo ich die Zügel selber in der Hand habe.” Im Sommer 1989 floh sie nach ihrem Germanistik-Studium in Jena über Ungarn nach Darmstadt und studierte dort Philosophie und Soziologie.

Ihre Bücher wie “Umkämpfte Zone”, “Generation Mauer” oder “Fabelland” sind keine fertigen Diagnosen, sondern tastende Gesellschaftserzählungen. “Ich bin immer wieder erstaunt, dass gerade diese Gesellschaftsbücher auch ein bisschen wie eine eigene Orientierungssuche sind. Das Ich im Text läuft ja immer mit, ist dabei, auch in brenzligen Situationen, ist auch gefährdet, zeigt: Ich komme nicht von oben und erkläre den Leuten kurz mal die Welt”, erklärt Geipel.

Thematisch sind ihre Werke von einem doppelten Schweigen durchzogen: jenem der DDR über die eigenen Verbrechen – und jenem, das in vielen ostdeutschen Familien nach 1945 fortlebte. “Diese Doppelbelastung ist nicht in jeder Familie dieselbe, aber doch sehr viel mehr, als wir uns als Gesellschaft bislang erzählen konnten. Im Osten haben wir es ganz grundsätzlich mit dieser Doppelung zu tun – mit dem nicht aufgearbeiteten Nationalsozialismus und der sehr instrumentellen Gedächtnispolitik in der DDR.”

Geipel recherchiert in Archiven, liest Prozessakten und Stasi-Dossiers – und stößt dabei immer wieder auf ein zentrales Muster: kontrollierte Erinnerung, systematisches Verdrängen. “Die Staatssicherheit war der absolute Erinnerungskontrolleur für den Osten. Die wussten alles, konnten in jede Familie hineinschauen und die Bevölkerung so erpressen. Was öffentlich hätte besprochen werden müssen, blieb inkognito, weil es nur eine Erzählung geben durfte: den roten Kommunisten, der Hitler besiegt hat. Ich finde es nach wie vor atemberaubend, wie unter dieser einen Erzählung eine Überdimension an Schweigen 40 Jahre lang regelrecht gehaust hat.”

Trotz dieser Schwere – oder gerade deswegen – schreibt Geipel gegen die bloße Anklage. Ihre Literatur ist keine reine Wutrede. “Ich würde das für mich nicht richtig finden, nur mit Wutbüchern dem Publikum den Scheuerlappen ins Gesicht zu werfen. Das bin ich nicht. Und ich halte es auch nicht für sinnvoll.” Geipel sieht viele Ostdeutsche bis heute in einem Zustand des inneren Dazwischen – weder angekommen, noch zugehörig. “Ich nehme die Ostdeutschen so wahr, dass sie eben in meinen Augen eine Suchstation noch immer sind. Und eigentlich entgegne ich: Ich bin auch dieser Nichtort, aber deswegen ist man nicht am Ende. Man ist geworfen durch die Zeit, aber man kann sich eine Position erarbeiten oder erkämpfen.”

Ines Geipels Werk ist geprägt von dieser Suchbewegung – präzise, verletzlich, unbequem. Sie schreibt gegen das Schweigen an, aber nie von oben herab. Ihre Bücher sind Einladungen zum Nachdenken, nicht zur bloßen Empörung. Sie bezeugen, dass Literatur – jenseits von Ideologie und Pose – auch ein Raum der Selbstermächtigung sein kann. Und dass es möglich ist, von einem Ende der Welt zum anderen zu gelangen – wenn man den Mut hat, auf die Sprache zuzugehen.