Artikel teilen:

Ihre Rettung ist greifbar nah

Der Künstler Peter Eickmeyer und die Journalistin Gaby von Borstel haben mit der „Aquarius“ eine Rettungsmission auf dem Mittelmeer begleitet. In einer „Graphic Novel“ erzählen sie davon, wie das Schiff Flüchtlinge vor dem Tod auf See bewahrte

epd

Ernst und mit weit aufgerissenen Augen blickt das Baby dem Betrachter entgegen. Das Gemälde zeigt übergroß seinen dunkelbraunen Kopf. Ein Handtuch ist schützend darum gelegt. Die Sonne taucht die Szenerie in warmes Licht. Peter Eickmeyer hat sein Bild „Goldenes Kind“ genannt. Der oder die Kleine gehört zu den Tausenden Menschen aus Afrika, die im vergangenen Jahr über das Mittelmeer geflüchtet sind. Drei Wochen lang hat der Künstler Rettungsaktionen auf See an Bord der „Aquarius“ hautnah miterlebt. In mehr als 200 Zeichnungen und Skizzen hat er Ereignisse, Momente, Menschen festgehalten.
Sie werden im Juni zusammen mit Texten der Journalistin Gaby von Borstel als Graphic Novel, einer Art modernem Comic, erscheinen. Ein Teil der Bilder ist gegenwärtig noch bis zum 7. Mai in einer Ausstellung im Erich-Maria-Remarque-Zentrum in Osnabrück zu sehen.

Portraits spiegeln Gedanken und Gefühle der Geretteten

Die beiden Künstler haben ihrem Projekt und dem Buch den Titel „Liebe deinen Nächsten“ gegeben. Mit dem Jesus-Wort aus der Bibel appellieren sie zugleich an das christlich-abendländische Europa, es möge seine Asylpolitik menschlicher gestalten: „Niemand hat es verdient, im Mittelmeer zu ertrinken“, sagt Eickmeyer knapp.
Als er und von Borstel im Dezember 2015 von der Arbeit der zivilen Hilfsorganisation „SOS Méditerranée“ erfuhren, beschlossen sie, mit künstlerischen Mitteln ihren Beitrag zu leisten. Auf dem von den Helfern gecharterten ehemaligen Fischereikontrollschiff „Aquarius“ führten sie im Sommer 2016 Interviews mit Rettern und Geretteten.
Eickmeyer fertigte Skizzen an und malte Aquarelle. Ein Teil der Einnahmen, die sie aus dem Buchverkauf, mit Ausstellungen und Vorträgen erzielen, wollen sie den Helfern spenden.
Es war der Tag des Brexit, der 23. Juni, als sie ihre erste große Rettungsaktion erlebten. Immer wieder wurden Menschen aus völlig überfüllten Schlauchbooten geholt. Rund 600 Geflüchtete hatte die „Aquarius“ am Ende des Tages aufgenommen, erinnert sich Eickmeyer. „Überall saßen und lagen in graue Decken gehüllte Menschen. Das Wetter hatte sich kurz zuvor deutlich verbessert und die Schleuser hatten Tausende auf die Reise geschickt.“
Der Künstler aus Melle bei Osnabrück hat diese und viele weitere Szenen in Tusche-Zeichnungen festgehalten. Am Computer hat er sie, wie bei Comics üblich, nachträglich koloriert. Da ist ein Blick durch ein Fernglas aufs offene Meer hinaus. Inmitten der Schaumkronen zeichnen sich – winzig klein – die Köpfe von Menschen ab. Da ist der Fotojournalist mit seiner Kamera, dem sich die Arme der Geretteten entgegenstrecken. Da ist ein Boot im Mondenschein, voll mit Flüchtlingen: „Das haben wir mitten in der Nacht nach stundenlanger Suche entdeckt“, sagt Eickmeyer. Das ungläubige Staunen über solch einen Zufall ist ihm noch anzumerken.
Auf den zahlreichen Portraits spiegeln sich die Gedanken und Gefühle der Geretteten wider. Große Erleichterung, bange Erwartung, manchmal auch einfach Leere – und vor allem unendliche Müdigkeit.
Eickmeyer hat die Portraits nicht am Computer, sondern per Hand mit Farbe versehen: „Ich möchte die Dis­tanz verkürzen, dem Betrachter die Menschen und ihre Geschichte nahebringen.“
So hat der Künstler, der schon aus Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ eine Graphic Novel gemacht hat, auch sein „Glücks­paar“ portraitiert: Eine junge Frau und ihr junger Freund sitzen eng aneinandergeschmiegt und lächeln. „Sie hatten sich in Libyen am Strand verloren“, erzählt von Borstel. „Die Schlepper haben sie auf verschiedene Boote getrieben. Auf der ‚Aquarius‘ haben sie sich wiedergefunden.“
Eickmeyer und von Borstel ist klar, dass ihre Graphic Novel auch ganz anders hätte aussehen können. Beim nächsten Rettungseinsatz, als sie schon wieder von Bord waren, haben die Helfer die Leichen von 22 jungen Frauen bergen müssen. Sie waren in einem völlig überfüllten und mit Wasser vollgelaufenen Schlauchboot ertrunken.

Öffnungszeiten der Ausstellung: dienstags bis freitags 10-13 Uhr und 15-17 Uhr, samstags und sonntags 11-17 Uhr.

Internet: www.remarque.de; http://sosmediterranee.org.