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“Ich bin Priester, lasst mich durch!”

Laubhüttenfest in Jerusalem. Etwa 50.000 Juden drängen sich auf dem Platz vor der Klagemauer. Einige stehen auf Plastikstühlen, um mehr zu sehen. „Ich bin Priester“, ruft ein Mann, „lasst mich durch!“. An der Mauer angekommen, verhüllt er sich mit einem weißen Gebetsmantel und wendet sich den Menschen zu. Gemeinsam mit hunderten weiteren Priestern spricht er die drei Sätze, für die alle hier sind: „Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“

Da die Segnung der Gemeinde im Judentum den Priestern, Nachfahren des biblischen Aarons, vorbehalten ist, heißt der Segen auch Aaronitischer Segen. Die erste Großsegnung dieser Art fand 1970 statt, als der Rabbiner Menachem Mendel Gafner die jüdische Seele stärken wollte, während sich Israel im Abnutzungskrieg mit Ägypten befand.

Eine wachsende Segensbedürftigkeit gebe es auch in den „säkularisierten westlichen Gesellschaften, wo Menschen nach Sinn, Glück und Gelingen im Leben suchen“, meint Martin Leuenberger, Professor für Altes Testament an der Universität Tübingen. Er forscht seit über 20 Jahren zum Segen. „Lange war das ein nachgeordnetes Thema in der Theologie.“

Nur einen Kilometer von der Klagemauer entfernt kam es 1979 zur Sensation. Ein Archäologe stieß dort auf Grabanlagen, die ungefähr aus dem 7. bis 6. Jahrhundert vor Christus stammen. Unter den Grabbeigaben befanden sich zwei kleine Silberröllchen. Drei Jahre brauchten Experten des Israel-Museums, um sie unbeschadet zu öffnen. Sie stießen auf den fast vollständigen Text des Priestersegens – mit etwa 2.700 Jahren der älteste erhaltene bibelnahe Text überhaupt.

Martin Leuenberger weist jedoch auf ein anderes Detail hin. „Man hat die Reibungsspuren vom Tragen an den Amuletten gefunden. Das zeigt: Sie wurden mit einem Faden um den Hals getragen, um das gelingende Leben, den Segen Gottes zu sichern.“ Erst im zweiten Schritt seien die Amulette als Grabbeigaben verwendet worden. „Das ist religionsgeschichtlich brisant“, fährt der 50-Jährige fort. „Indem man die Amulette dem Verstorbenen mit ins Grab gab, wünschte und glaubte man, dass Gottes Segen jetzt auch im Jenseits wirksam ist.“ Im alten Orient war es alles andere als selbstverständlich, Gott diese Kompetenz zuzutrauen.

Im vierten Buch Mose, wo der Text endgültig festgehalten wurde, sieht Leuenberger ein weiteres Phänomen: Obwohl der Priestersegen an „das einzelne Du“ gerichtet ist, wird er hier von den Israeliten als Gemeinschaft empfangen. „Das finde ich hochinteressant. Auch in unserem evangelischen Gottesdienst ist es ja so, dass ich als einzelner den Segen empfange, aber ich tue das auch in der Gemeinschaft.“ Indem der Segen bis heute von Juden und Christen fast identisch benutzt wird, „hat er tatsächlich das Potenzial, Brücken über Religionsgemeinschaften hinweg zu bauen“.

Doch in der Alten Kirche wurde der Priestersegen häufig als „zu jüdisch“ abgelehnt, wohingegen es nach der Reformation vielerorts zum gegenteiligen Problem kam: Christen meinten, den Segen „in der einzig richtigen Weise zu rezipieren und damit die jüdische Gebrauchsweise zu entkräften“, erklärt Leuenberger.

Ein weiteres Mal geriet der Segen in der Aufklärung unter Generalverdacht, dieses Mal als „menschlicher Eingriff in das Hoheitsgebiet Gottes“. Natürlich müsse man kritisch prüfen, wann und wofür ein Segen angebracht ist, meint Leuenberger und nennt die Segnung von Panzern während des Ersten Weltkrieges als Negativbeispiel. Doch überall, wo ein Segen der Lebensförderlichkeit diene, sei er biblisch legitim, wenn nicht sogar geboten. (2358/03.10.2023)