Seine letzte Reise hier auf Erden führte Ehrhart Neubert nach Berlin: am 9. November zum 35. Jahrestag des Mauerfalls. Als einer von 20 Bläsern des Limlingeroder Posaunenchores, den seine Frau Hildigund Neubert in ihrem Heimatort im ehemaligen Sperrgebiet leitet, blies er beim „Posaunenruf zum Mauerfall“ mit: an der Gedenkstätte Bernauer Straße. Bis zum Schluss war er als Pfarrer im Unruhestand in den umliegenden Thüringer Dörfern als Seelsorger und Prediger unterwegs. Der Choral „Danket dem Herrn“ war sein Gruß zum Abschied, vor Hunderten Zuhörern bei der Gedenkveranstaltung.
Vor knapp zehn Jahren wurde in der Thüringer Landesvertretung in Berlin anlässlich von Ehrhart Neuberts 75. Geburtstag ein wissenschaftliches Symposium ausgerichtet. Historiker, Freunde und Weggefährten diskutierten und erinnerten sich. Ehrhart Neubert war in der Studienabteilung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) für die soziologischen Fragen zuständig. 1986 hatte er dort eine „nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch“ bestimmte Studie verfasst mit dem Titel „Reproduktion von Religion in der DDR-Gesellschaft: Ein Beitrag zum Problem der sozialisierenden Gruppen und ihrer Zuordnung zu den Kirchen“. In kirchlichen und oppositionellen Kreisen – und im MfS – fand sie ein großes Echo.
Historiker und Weggefährten – darunter Ilko-Sascha Kowalczuk, Ulrike Poppe, Lutz Rathenow – diskutierten über die Selbstermächtigung des Volkes der DDR mit dem Ruf „Wir sind das Volk“. Die emanzipatorische Kraft von Religion in der Diktatur war Neuberts Thema. Es ließt sich nicht an einer staatlichen Uni bearbeiten. Christine Lieberknecht, die ehemalige Pastorin und Thüringer Ministerpräsidentin, eröffnete die Veranstaltung mit sehr persönlichen Erinnerungen und dem Neubert-Zitat: „Pfarrerskinder haben einen hohen emanzipatorischen Willen.“
Ehrhart Neubert: Bedrückungen der Menschen in der DDR prägten ihn
Ehrhart Neuberts Vater war Superintendent. Er selbst wurde nach dem Studium in Jena 1964 Vikar und Dorfpfarrer in Thüringen. Die Bedrückungen der Menschen durch die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Zwangsaussiedlungen im DDR-Grenzgebiet („Aktion Ungeziefer“) prägten ihn. Später wurde Neubert Studentenpfarrer in Weimar. 1984 erhielt er die Berufung zum Referenten für Gemeindesoziologie beim BEK.
Ein viel diskutierter und auch umstrittener Begriff wurde der Titel seiner 1990 erschienenen Schrift: „Eine protestantische Revolution“. Ehrhart Neubert schrieb nie Herrschaftsgeschichte. Ihm lagen die emanzipatorischen Gruppen und die unangepassten Einzelnen am Herzen und die Opfer der SED-Diktatur. Er war 1989 Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“. Ab 1997 war er als Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung in der „Gauckbehörde“ tätig. So bezeichnete man die Bundesbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik (BStU), nach ihrem jeweiligen amtierenden Beauftragten.
Er gründete das Bürgerbüro zur Aufarbeitung von DDR-Unrecht mit
Im selben Jahr gründete er unter anderem mit den DDR-Bürgerrechtlern Bärbel Bohley, Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Freya Klier, Siegfried Reiprich, Günter Nooke, Ignatz Bubis, Katja Havemann, Wolfgang Templin, Konrad Weiß, Ralf Giordano unter anderem das Bürgerbüro e.V. – Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur. Bis 2015 war Neubert als Nachfolger Bärbel Bohleys dessen Vorsitzender. „Vergebung oder Weißwäscherei“ war der Titel eines von Neubert 1993 erschienenen Buches zur (unzureichenden) Aufarbeitung der Stasiverbindungen in den Kirchen. Und auch sein 1997 erschienenes Standardwerk „Die Geschichte der Opposition in der DDR“, für das er 1997 an der FU Berlin von Gesine Schwan promoviert wurde, erzählt diese Geschichte von der Basis der oppositionellen Gruppen aus.
Bei allem Schreiben und allem politischen Wirken ist Ehrhart Neubert immer auch seine Identität als lutherischer Theologe anzumerken. So überlegte er auf „seinem“ Symposium auch, ob die tiefere Sinnebene des Revolutionsrufes von 1989 „Wir sind das Volk“ nicht die aus 1. Korinther 12 sei: die auch in der Diktatur nicht ganz verschüttete Erinnerung, dass eine funktionierende Staatsordnung „ein Leib und viele Glieder“ sein müsse.
“Die Kraftfahrer sitzen in dem kleinen Raum da hinten”
Im späten Herbst des Jahres 1989 wandte sich ein Teil des Demokratischen Aufbruchs der CDU zu. Ehrhart Neubert stellte Angela Merkel als Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruchs an. Zu der Zeit wurden auch die ersten schick angezogenen Berater der West-CDU in den Osten geschickt: Da begrüßte man bei einem feierlichen Empfang in einem Berliner Hotel den vornehm aussehenden Referenten an Neuberts Seite mit höchster Ehrerbietung und sagte zu Neubert mit dem stets verwegen wehenden Haar: „Die Kraftfahrer sitzen in dem kleinen Raum da hinten.“ Neubert lachte, als er dies damals erzählte: „Hätte ich geahnt, wie leicht man Leute beeindruckt, dann hätte ich mir schon mal eher einen Schlips umgebunden.“
Andreas Bertram ist Pfarrer in der Kirchengemeinde Niederschönhausen-Nordend in Berlin, stellvertretender Vorsitzender des Bürgerbüro – Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur. Er war Vikar im Spezialvikariat bei Ehrhart Neubert im Bürgerbüro e.V.