Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die mit Tausenden Flüchtlingen besetzte “Wilhelm Gustloff” vor der Küste Pommerns versenkt. Ein Historiker erklärt, welche Rolle das Ereignis für die Erinnerungskultur spielt.
Vor 80 Jahren, am 30. Januar 1945, wurde das ehemalige Kreuzfahrtschiff “Wilhelm Gustloff” durch ein sowjetisches U-Boot in der Ostsee versenkt. An Bord befanden sich Tausende Menschen, die in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs vor den Kämpfen aus Ost- und Westpreußen fliehen wollten. In Berlin erinnert das 2021 eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung an diese und andere Geschichten von Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) ordnet der Bereichsleiter für Dokumentation und Forschung, Nils Köhler, das Geschehen ein.
KNA: Herr Köhler, welche Rolle spielt der Untergang der “Wilhelm Gustloff” bei der Erinnerung an das Ende der deutschen Geschichte in Ostpreußen?
Köhler: Der Untergang der “Gustloff” ist wahrscheinlich das große Symbol für die Flucht aus Ost- und Westpreußen – neben dem Weg über das vereiste Frische Haff. Der Untergang der “Gustloff” hat sich zu einem Erinnerungsort für die Schrecken der Flucht über die Ostsee entwickelt. Dabei ist dies jedoch vor allem eine nachträgliche Zuschreibung.
KNA: Warum?
Köhler: Während der Fluchtereignisse im Frühjahr 1945 war der Untergang wenig bekannt, es wurde überregional kaum darüber berichtet. Für die meisten Ost- und Westpreußen begann die Flucht über die Ostsee erst, als die “Gustloff” schon untergegangen war.
KNA: Warum hat gerade diese Katastrophe dann trotzdem einen vergleichsweise prominenten Platz in der Erinnerung erhalten?
Köhler: Dieses Schiff bildet einen wichtigen Bezugspunkt für familiäre Narrative, auch wenn manche Fluchtgeschichte, in der die “Gustloff” vorkommt, in der Realität erst Wochen nach ihrem Untergang erfolgte. Die Erinnerung fokussiert auf dieses Schiff, das nur an diesem 30. Januar 1945 Flüchtlinge transportierte und versenkt wurde. Hunderte andere Schiffe, die über Monate Flüchtlinge transportierten, werden hingegen nicht erinnert, auch andere Schiffsuntergänge mit hohen Opferzahlen nicht. Die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und der Kinofilm “Nacht fiel über Gotenhafen” aus dem Jahr 1960, der die Fahrt der “Gustloff” thematisierte, haben dieses Bild verfestigt.
KNA: Hat sich der Blick auf Ostpreußen mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine oder dem Erstarken rechtsextremer Kräfte wie der Afd verändert?
Köhler: Das ist schwer zu beantworten. Natürlich ist die Einreise ins Gebiet Königsberg nicht mehr möglich und die meisten Kontakte in den heute russischen Teil Ostpreußens kamen zum Erliegen. Einen Einfluss auf die Wahrnehmung Ostpreußens haben die Entwicklungen der letzten Jahre nach unserer Erfahrung nicht gehabt.
KNA: Wie wird die Arbeit der Stiftung aktuell bei den europäischen Nachbarn aufgenommen?
Köhler: Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist mittlerweile ein Partner für viele Einrichtungen international. Mit der Eröffnung des Dokumentationszentrums im Jahr 2021 konnte viel Misstrauen abgebaut werden, das dem Projekt zuvor bei den östlichen Nachbarn begegnete. Der polnische Botschafter war Gast der Eröffnung, durchgehend besuchen viele offizielle Regierungsdelegationen insbesondere aus Polen unser Haus. Die dänische Königin und ihr Sohn, der jetzige König, besuchten das Haus im November 2021 und würdigten damit die enge Kooperation des Dokumentationszentrums mit dem neuen Museum FLUGT im dänischen Oksböl, das 2022 auf dem Gelände eines ehemaligen deutschen Flüchtlingslagers der Jahre 1945-49 eröffnet wurde. Der rumänische Präsident Johannis war Ende 2024 zu Gast, ebenso wie der Botschafter Bosniens oder die schwedische Botschafterin.
KNA: Gibt es in der historischen Forschung Ihrer Ansicht nach noch Lücken mit Blick auf die Geschichte Ostpreußens?
Köhler: Die gibt es immer, und wird es immer geben. Allerdings ist gerade die Erforschung der Zwischenkriegszeit und der Zeit des Nationalsozialismus mittlerweile sehr gut vorankommen. Auch zum Thema der jüdischen Bevölkerung Ostpreußens konnten schmerzhafte Lücken geschlossen werden. Ganz anders sieht es bei unserem Thema Flucht und Vertreibung aus.
KNA: Wie meinen Sie das?
Köhler: Die Flucht über die Ostsee ist insbesondere durch die Forschungen und Bücher von Heinz Schön und Wolfgang Müller gut dokumentiert. Anders sieht es bei der Flucht über Land aus. Wir wissen bis heute viel zu wenig über die Routen und Schicksale unzähliger Flüchtlingstrecks sowie Flüchtlings- und Vertreibungstransporte mit der Bahn. Hierzu erhalten wir immer wieder Anfragen von Familienforschern. Dazu besteht eine echtes Desiderat, auch weil es fast keine amtliche Überlieferung dazu gibt.
KNA: Lassen sich solche Lücken nach 80 Jahren überhaupt noch schließen?