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Herrlich beten

Als Frau und Jüdin hat die hochbegabte Edith Stein keine Chance auf eine Uni-Karriere. In einer Lebenskrise entdeckt die junge Frau das Christentum und wendet sich der Mystik zu

„Denn wo Du bist, da sind die Deinen auch, / Der Himmel ist mein herrlich Vaterland, / Ich teil' mit Dir des Vaters Thron."
Diese Verse schreibt Edith Stein im Jahr 1938. Da lebt sie seit fünf Jahren im Kloster der Karmelitinnen in Köln, einem Orden, der sich zu besonderer Abgeschiedenheit und zum Gebet verpflichtet sieht. Wer vermutet hinter diesen fast kindlich frommen Worten eine eigenwillige, hochbegabte Frau, die eine aussichtsreiche akademische Laufbahn eingeschlagen hatte und es als Wissenschaftlerin mit den Geistesgrößen ihrer Zeit locker aufnehmen konnte?
Bevor Edith Stein 1922, mit 31 Jahren, zum Katholizismus übertrat, gehörte sie als Studentin zum Kreis um den Philosophen Edmund Husserl, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine völlig neue Denkrichtung in die philosophische Wissenschaft gebracht hatte. Sein hochabstraktes und komplexes System der „Phänomenologie“ stellt für die junge Frau kein großes Problem dar. Ihre Promotion erhält vom „Meister“ die Bestnote „summa cum laude“. Einer Karriere an der Universität scheint nichts im Wege zu stehen.

Als 15-Jährige das Beten abgewöhnt

Wenn da nicht zwei Faktoren wären, die ihr genau diesen Weg unmöglich machen: Edith Stein ist eine Frau. Und sie ist Jüdin. Diese Kombination ist an deutschen Universitäten in der Zeit zwischen den Weltkriegen ein Ausschlusskriterium.
Während sie sich noch um ihre akademische Laufbahn bemüht, kommt Edith Stein mit Menschen in Berührung, die ihre atheistische Überzeugung ins Wanken bringen. Stein war zwar in einem frommen jüdischen Elternhaus aufgewachsen, hatte sich jedoch schon früh vom Glauben distanziert. Mit 15 Jahren habe sie sich bewusst das Beten abgewöhnt, schreibt sie später einmal. Jetzt, Ende 1917, fällt ein naher Freund, Husserls ehemaliger Assistent Adolf Reinach, im Krieg. Sein Tod trifft Edith Stein tief; umso beeindruckter ist sie von der Glaubensstärke, mit der Reinachs Witwe Anna dem Verlust begegnet. Ihr Interesse für den christlichen Glauben erwacht.
In die gleiche Zeit fallen weitere Erschütterungen: Beruflich steckt Stein in einer Sackgasse; zudem muss sie zwei unglückliche Liebesbeziehungen verkraften. In dieser Zeit macht sie sich ernsthaft daran, die Wahrheit des Glaubens zu erforschen – mit derselben intellektuellen Intensität und Redlichkeit, mit der sie bisher Philosophie betrieben hat. „Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht“, lautet einer ihrer bekanntesten Sätze.

Dabei ist die Philosophie, die das Erkennen innerhalb der Welt sucht, für sie kein Widerspruch zur Erkenntnis des Glaubens, die über die Welt hinausgeht. Vielmehr ergänzen sich beide. „Es ist eine unendliche Welt, die sich ganz neu auftut, wenn man einmal anfängt, statt nach außen nach innen zu leben“, schreibt sie an einen alten Studienfreund. „Alle Realitäten, mit denen man vorher zu tun hatte, werden transparent, und die eigentlich tragenden und bewegenden Kräfte werden spürbar.“
Edith Stein empfängt kein mystisches Bekehrungserlebnis; sie setzt sich über Jahre hinweg intellektuell, aber auch in der Begegnung mit Gläubigen mit der Wahrheit des Glaubens auseinander. Den endgültigen Ausschlag gibt die Lektüre von Werken der Mystikerin Teresa von Avila (1515-1582), der Gründerin des Ordens der Unbeschuhten Karmelitinnen, in den Edith Stein später eintreten wird. Innere Kämpfe bereiteten ihr dabei ihre jüdische Herkunft. Ihr war klar, dass ihre Familie, vor allem ihre Mutter, keinerlei Verständnis für ihren Übertritt zum Christentum würde aufbringen können. Für sie selbst bedeutete die Beschäftigung mit dem Christentum jedoch auch eine Wiederannäherung an ihre jüdischen Wurzeln, die sie nie verleugnet hatte.
Am 1. Januar 1922 lässt Edith Stein sich taufen. Aber erst 1933, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, kann sich ihr Traum des völligen Rückzugs im Gebet erfüllen. Der Bruch mit der Mutter bereitet Edith Stein tiefen Kummer: „Die Entscheidung war so schwer (…) Ich musste den Schritt völlig in der Dunkelheit des Glaubens tun.“

Bis 1938 lebt sie im Karmel in Köln, dann flieht sie vor der Judenverfolgung ins niederländische Echt. Hier wird sie gemeinsam mit ihrer Schwester Rosa am 2. August 1942 verhaftet; vermutlich am 9. August wird Edith Stein gleich nach ihrer Ankunft in Birkenau in der Gaskammer ermordet.
Wieso sie, die sich mit dem abstrakten Denken so leicht tat und einen so großen Freiheitsdrang hatte, fasziniert war vom Gehorsam eines strengen Ordens, von der Versenkung im Gebet und in der Mystik, ist schwer zu erklären. Vielleicht war ihr im Laufe ihrer philosophischen Studien klar geworden, dass die menschliche Vernunft zu begrenzt ist, um die Welt in Gänze erfassen zu können. Edith Steins Verständnis von Erkenntnis wandelt sich denn auch im Laufe der Jahre von einem rein verstandesmäßigen zu einem mystischen, das jede menschliche Kategorie aufgibt. In ihrem letzten Werk über den Mystiker Johannes vom Kreuz zeichnet sie einen schmerzhaften Glaubensweg, der über jede Fähigkeit des menschlichen Begreifens hinausführt. Nur durch das Leiden, durch tiefe Gottverlassenheit und Dunkelheit kann die Gläubige „die erhabene, fremdartige Berührung der göttlichen Liebe“ erreichen.

Das Leben in des Vaters Hände legen

In dieses Denken passt auch ihre leidenschaftliche Bereitschaft, sich als „Sühnopfer“ für das jüdische Volk hinzugeben – ein heute höchst umstrittener Gedanke, den Edith Stein jedoch bis zu ihrer Ermordung durch die Nazis aufrechterhielt. Sie selbst formuliert die Sehnsucht, die sie im katholischen Glauben erfüllt sieht, einmal so: „zum Kinde werden und das Leben mit allem Forschen und Grübeln in des Vaters Hände legen.“
Das letzte Lebenszeichen von Edith Stein ist eine Karte vom 6. August aus dem Sammellager Drenthe-Westerbork, mit der sie ihre Oberin in Echt neben warmer Wäsche um ein Buch mit Gebeten bittet. Dahinter steht in Klammern: „Konnte bisher herrlich beten“.